Cancelt Eisenstaedt!

“Kissing the War Goodbye” - Victor Jorgensen, 13. Aug. 1945.

Dass man etwas erwartet, bedeutet nicht, dass man es versteht oder gar Verständnis dafür aufbringen kann. Die stetige Einengung des der freien Meinungsäußerung in Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft durch eine parasitäre Agenda führt daher nicht zu wirklichen Überraschungen, sondern nur zu Enttäuschungen.

 

Alfred Eisenstaedts Fotografie, aufgenommen am 13. August 1945 auf dem Times Square, ist eines der ikonischsten Bilder des 20. Jahrhunderts. Sie zeigt stellvertretend die Erleichterung über das Ende des verheerendsten Konflikts in der Menschheitsgeschichte und zeigt einen Matrosen, der eine Krankenschwester küsst, vor dem Hintergrund der weltberühmten Kreuzung im Herzen Manhattans. Beide, in Uniform gekleidet, sind bis heute anonym geblieben, obwohl im Laufe der Jahrzehnte einige sehr wahrscheinliche Akteure ins Licht der Öffentlichkeit traten.

Im Gegensatz zu der zeitgleich entstandenen Fotografie des Armee-Fotografen Victor Jorgensen zeigt Eisenstaedts Bild beide Personen in voller Länge und ermöglicht durch den erkennbaren Hintergrund die präzise Verortung des Geschehens. Die Fotografie von Mortensen wird oft mit der von Eisenstaedt verwechselt, da sie – als gemeinfreies Bild der U.S.-Armee – ohne Bedenken reproduziert werden kann.

Beide Fotografen machten sich auf den Weg, als am frühen Nachmittag die Nachricht von der Kapitulation Japans und somit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in New York verbreitet wurde. New York hatte bereits am 7. Mai die Nachricht über die Kapitulation Nazi-Deutschlands gefeiert. Die Erleichterung über den Sieg gegen einen Gegner wurde jedoch durch das Bewusstsein getrübt, dass die Invasion der japanischen Hauptinseln Kyushu und Honshu noch bevorstand. Im Mai kämpften die Marines auf Okinawa und erlitten im Verhältnis zum Landgewinn entsetzliche Verluste, ähnlich wie zuvor auf den Philippinen, wo Manila zwar befreit, aber im Verlauf der Kämpfe auch vollständig zerstört wurde.

Als Folge der ebenso fanatischen wie militärisch sinnlosen Verteidigungsstrategie Japans rechneten die Vereinigten Staaten mit bis zu 1,2 Millionen Opfern unter den eigenen Streitkräften im Falle einer Invasion Japans, ebenso mit einem Mehrfachen dessen an militärischen und zivilen Verlusten auf der Seite der Verteidiger.

Noch in der am gleichen Tage erschienenen Ausgabe hatte das Magazin Life über die anhaltenden schweren Kämpfe im Pazifik berichtet. Eine Bildsequenz zeigt den Tod eines brennenden japanischen Soldaten, der sich zu ergeben weigerte. Die amerikanische Öffentlichkeit war sich sehr darüber bewusst, dass es – unabhängig von der militärischen Großwetterlage – in den kommenden Monaten oder gar Jahren zu ebenso sinnlosen wie blutigen Kämpfen kommen würde.

Entsprechend überschwänglich war die Reaktion der Öffentlichkeit, als sich am 13. August die überraschende Nachricht von der japanischen Kapitulation zu verbreiten begann. In New York sollte sich die größte jemals zusammengekommene Menschenmenge am Times Square versammeln um den „atomaren Frieden“ zu feiern.

Während die beiden Fotografen nach Motiven suchten, bemerkte Eisenstaedt einen Matrosen, „der die Straße entlanglief und jedes Mädchen in Sichtweite packte.“ Im volksfestartigen Trubel sieht Eisenstaedt eher schemenhaft eine weiße Figur und einen Matrosen und löst – ebenso wie Jorgensen – reflexartig aus.

V-J Day in Times Square. 13. Aug. 1945, Alfred Eisenstaedt, The LIFE Picture Collection


„Then suddenly, in a flash, I saw something white being grabbed. I turned around and clicked the moment the sailor kissed the nurse. If she had been dressed in a dark dress I would never have taken the picture. If the sailor had worn a white uniform, the same. I took exactly four pictures. It was done within a few seconds.“


“Dann plötzlich, in einem Blitz, sah ich etwas Weißes gegriffen werden. Ich drehte mich um und klickte in dem Moment, als der Matrose die Krankenschwester küsste. Hätte sie ein dunkles Kleid getragen, hätte ich das Bild nie gemacht. Hätte der Matrose eine weiße Uniform getragen, ebenso. Ich machte genau vier Bilder. Es war innerhalb weniger Sekunden erledigt.“ (Eisenstaed on Eisenstaedt, 1. Feb. 1985, Abbeville Press Inc., eigene Übersetzung vom Original)

Sowohl die Krankenschwester als auch der Matrose verlieren sich in den feiernden, die Fotografie Eisenstaedts erscheint als Teil einer Bilderstrecke über die Siegesfeiern in den Vereinigten Staaten, mit Fotografien aus Chicago, Washington, San Francisco, Los Angeles und New York. Ein eigenes Segment widmet sich dem Phänomen küssender Soldaten, die Fotografie Eisenstaedts schließt dieses Segment als einzige mit einer ganzen Seite ab. 

Dr. Joseph Göbbels in Genf, 1933. Alfred Eisenstaedt, Life Magazine.

Motiv als auch Szene lassen die Fotografie in der Folge zu einem Synonym für das für die freie Welt glückliche Kriegsende werden. Der Kuss im Herzen der Welthauptstadt New York, wie auch die Tatsache, dass beide uniformiert sind und somit stellvertretend für die gemeinsame Anstrengung im Kampf gegen den Totalitarismus stehen, tragen unzweifelhaft zur universellen Popularität der Fotografie bei.

 Eisenstaedt selbst war vor eben diesem Totalitarismus 1935 in die Vereinigten Staaten geflohen. Geboren 1898 in Dirschau (heute Tczew, Polen), begann er – wie so viele – seine fotografische Karriere im Berlin der Zwischenkriegszeit. Er fotografierte Männer auf einem fahrenden Zeppelin über dem Atlantik ebenso wie auf die Reichen und Schönen auf den Medienbällen der Babelsberger Filmindustrie; er zeigte die Reichswehr als graue Verfügungsmasse am Tag von Potsdam ebenso wie die Person hinter der Maske des Dr. Göbbels in Genf.

Als einer der wichtigsten Fotografen des Bildmagazins „Life“ ist es ebenso Eisenstaedt, der eine einfühlsame Serie herzzerreißender Abschiedsszenen in der Penn Station Anfang 1943 fotografiert. Diese Bilder, mit versteckter Kamera aufgenommen auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges, zeigen Paare, die sich möglicherweise nie wiedersehen werden. Die Serie titelte am 19. April 1943 und erschien erneut am Valentinstag 1944 mit folgender Bildunterschrift:

Wartime Valentines, Penn Station, 1943, Alfred Eisenstaedt, The LIFE Picture Collection.

 “Each goodbye is a drama complete in itself, which Eisenstaedt’s pictures movingly tell. Sometimes the girl stands with arms around the boys’ waist, hands tightly clasped behind. Another fits her head into the curve of his cheek while tears fall onto his coat. Now and then the boy will take her face between his hands and speak reassuringly. Or if the wait is long they may just stand quietly, not saying anything. The common denominator of all these goodbyes is sadness and tenderness, and complete oblivion for the moment to anything but their own individual heartaches.”


„Jeder Abschied ist ein Drama für sich, das Eisenstaedts Bilder bewegend erzählen. Manchmal steht das Mädchen mit den Armen um die Taille des Jungen, die Hände fest hinter ihm verschränkt. Ein anderes legt ihren Kopf in die Kurve seiner Wange, während Tränen auf seinen Mantel fallen. Hin und wieder wird der Junge ihr Gesicht zwischen seine Hände nehmen und beruhigend sprechen. Oder wenn das Warten lang ist, stehen sie möglicherweise einfach still da, ohne etwas zu sagen. Der gemeinsame Nenner all dieser Abschiede ist Traurigkeit und Zärtlichkeit und für den Moment völlige Vergessenheit gegenüber allem außer ihrem eigenen individuellen Herzschmerz.“ (Life, 14. Februar 1944, eigene Übersetzung vom Original).

Eisenstaedt wird in der Folge einer der erfolgreichsten Porträtfotografen seiner Zeit werden. Für ihn, wie auch für jenes ikonische Foto vom Times Square, wäre diese Geschichte damit erzählt, wenn wir nicht wieder in einer Zeit korrosiver Gedanken leben würden. Zunächst schleichend, dann mit immer mehr Selbstbewusstsein, macht sich eine alte Ideologie in neuem Gewand daran, die Sprache und somit auch die Bilder der Vergangenheit niederzureißen, ungeachtet dessen, dass es eben diese freiheitlichen Errungenschaften waren, die das eigene Tun heute erst ermöglichen.

Die Fotografie des küssenden Matrosen vom Times Square wird von einer ebenso lautstarken wie woken Minderheit als Synonym einer in den freiheitlichen Gesellschaften des Westens vorherrschenden „Rape Kultur“ gesehen, sei daher mindestens gefühlverletzend, wenn nicht sogar gewaltsam gegenüber dem Betrachter, und gehört daher verboten. Dies wurde zuletzt – wenn auch letztlich erfolglos – von der U.S. Veteranenbehörde versucht.

Die Argumentation stützt sich auf die Annahme, dass der Kuss nicht einvernehmlich erfolgt sei, was sich aus der Körperhaltung, insbesondere des Matrosen, ableiten lässt. Dieser Punkt ist unbestritten und findet sich sowohl in den Erinnerungen Eisenstaedts als auch in der Bildunterschrift der Fotografie in der Life-Ausgabe selbst. Daraus jedoch einen Beweis für eine in den USA weit verbreitete Vergewaltigungskultur ableiten zu wollen, erscheint allerdings überaus gewagt und letztlich nicht haltbar.

Es ist dieselbe Ideologie, die es so schwerfällt, tatsächlich stattgefundene, massenhafte Vergewaltigungen – wie beispielsweise am 7. Oktober 2023 in Israel – auch nur als solche zu benennen. Diese einfältige Ideologie führt letztendlich nur zu Spaltung und Ausgrenzung, sie überwindet bestehende Gräben nicht, sondern schafft im Gegenteil neue.

Die Fotografie Eisenstaedts ist weder ein Beleg der gewaltsamen oder systematischen Unterwerfung der Frau, noch ermuntert sie zu irgendeiner Form von tatsächlicher Gewalt. Stattdessen steht sie für das Ende des Zweiten Weltkrieges mit seinen bis zu 85 Millionen Toten, sie steht dafür, dass sich weder Nanking noch Katyn oder Babi Yar wiederholen sollten.

Victor Jorgensen, Untitled, (nurse wiping the shoulder of a patient), 1945.

Gemeinsam haben sich damals Männer wie Frauen, in Uniform und in Zivil, einer weltweiten, totalitäre Aggression in den Weg gestellt und letztlich – nach vielen, gemeinsam erbrachten Opfern – obsiegt. Mit jeder Revision in unserer Sprache oder unseren Bildern einer neuen fanatischen Tscheka geben wir ein Stück dieses Erfolges ab, schränken unsere Freiheit im Geiste weiter ein.

Ich kann nur hoffen, dass, wenn all dies vorüber ist, Menschen wieder ihre Freiheit auf dem Times Square feiern werden.

Victor Jorgensen verstarb am 14. Juni 1994 in West Linn, Oregon. Alfred Eisenstaedt verstarb im Jahr darauf am 23. August 1995 in Oak Bluffs, Massachusetts. Die Identität der Krankenschwester und des Matrosen ist – trotz vieler wahrscheinlicher Kandidaten – nicht mehr mit Sicherheit festzustellen.

Es waren der Küsse zu viele, am Ende eines langen Krieges.

Buchempfehlungen dazu:

George Orwell - 1984
Friedrich A. von Hayek - Der Weg zur Knechtschaft

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