Nikotin

Das Archiv als fotografischen Essay.

Die Grundidee ebenso wie der launige Titel speist sich aus den fotografischen Resultaten einer mehrjährigen Zusammenarbeit mit dem Fotomodel Widget. In zwei unterschiedlichen Edits verwebt das Projekt scheinbar Privates mit inszenierter Fotografie. Zahlreiche, bislang unveröffentlichte Aufnahmen verbinden die Geste der Fotografie mit der unvermeidlichen Ambivalenz der Pose im unverbesserlich piktoralem: Was ist echt, was gestellt?

 
 
 

Mit der Fotografie ist das bekanntlich so eine Sache. Jedes Foto – unabhängig ob Teil eines aufwendigen Modeshootings, ob Urlaubsschnappschuss oder Passbild aus dem Automaten beginnt nach seiner Entstehung zu reifen. Zunächst nur langsam, beinahe unmerklich wird selbst der Bildbeweis einer eiligen Geschwindigkeitsübertretung nach einer gewissen Zeit zu einer sentimentalen Erinnerung; „Damals hatte ich noch Haare“ oder auch „Onkel Herbert ist zu Lebzeiten stets flott unterwegs gewesen“. Gleiches gilt auch für die unzähligen nicht genutzten Fotografien aufwendigere Fotoproduktionen: Was ursprünglich nur wie belangloses Beiwerk einer Auftrags- oder konzeptionellen Arbeit wirkt, sticht bei erneuter Durchsicht als bemerkenswert hervor. Gerade bei Produktionen mit fester Konzeption altert dieser fotografische Beifang besser, transportiert Barthes’ „So ist es gewesen“ („Ça a été“) besser als die ursprünglich ausgewählten und präsentierten Ergebnisse, welche nun ihrerseits eher steif und mitunter auch unpassend erscheinen.  

Und so entfaltet mitunter gerade dieser - ehemals völlig unbedeutende - fotografische Beifang in der Retroperspektive eine neue Wirkung, erlangt mitunter eine besondere oder neue Bedeutung. Auch verändert sich oft die Bewertung des ursprünglich fotografierten Themas, diese ist im Nachhinein sehr häufig weitaus kritischer und sorgt somit zusätzlich dafür, dass sich die Bildauswahl weiter ändert. Waren es ursprünglich häufig Bilder, die im Sinne der ursprünglichen Konzeption das scheinbar höchste Maß an Idealisierung darstellten, so sind es mit zeitlichem Abstand betrachtet häufig insbesondere die Fotografien, die eine bestimmte Lebendigkeit vermitteln. Wenn erst einmal die ursprüngliche fotografische Zielsetzung, die so mühevoll erbrachte Konzeption durch den Faktor Zeit weniger relevant gespült worden ist, fällt die Bildauswahl wieder auf ihr ursprüngliches und wichtigstes Muster zurück: Welche der jeweils vorliegenden Fotografien transportiert auf ihren wenigen Quadratzentimetern und auf toter Materie das höchste Maß an spürbarer Lebendigkeit. Das surreale und das sentimentale Element der Fotografie in Reinkultur, war es ja kein Zufall, dass Roland Barthes seine Helle Kammer unter dem Eindruck des Todes seiner Mutter schrieb, genauer bei der Durchsicht ihrer Fotografien.

Vor dem Aufkommen der digitalen Fotografie und der damit einhergehenden möglichen preiswerten Massenproduktion von Bildern war es mitunter noch leichter die „besondere“ Fotografie aus mehreren Rollen Film auszuwählen. Ein Beispiel einer scheinbar ungewöhnlichen Auswahl ist F.C. Gundlachs „Bernadette in einem Kleid von Lanvin“ (Bernadette, Dress by Lanvin, Paris, 1966, erschienen in Annabelle 8/1966). Auf dem Kontaktbogen ist auch heute noch nachzuvollziehen wie das Modell – Bernadette – auf 24 Aufnahmen 22-mal in Richtung der Kamera agiert, mit allen damit auch heute noch verbundenen Posen und Gesten. Die Serie ist offensichtlich in Bewegung geschossen, nicht zuletzt daher holt sie auf zwei unmittelbar hintereinander folgenden Belichtungen den Schwung für weitere Posen und dreht sich aus der Blickrichtung der Kamera. Das Gesicht im Schatten als Silhouette, die Figur wird zur Skulptur. Eine perfekte fotografische Ikone, und das völlig unabhängig davon, dass sie nicht als sie selbst erkennbar ist und der Bildschnitt so bedenklich nah am Knie greift – beides würde so manchen Onlinerezensenten in die sprichwörtlich nachtschwarze Verzweiflung treiben.

In den Archiven jedes Fotografen schlummern mit Sicherheit großartige Aufnahmen, die jedoch aus einer Vielzahl und meist technischer Gründe nicht als solche erkannt werden. Weil sie eben nicht der mitunter selbst gesetzten Aufgabe bestmöglich entsprechen, oder bestimmten handwerklichen Standards nicht genügen. Und weil eben auch die Durchsicht von hunderten von Aufnahmen nicht nur ein sehr anstrengender, sondern auch ein sehr fehlerbehafteter Prozess sein kann. Der moderne Fotoapparat macht nicht mehr nur das Bild automatisch, sondern lässt dank modernster Technik nur noch perfekte Bilder zu.

Vanilla-Edit (Mock-Up)

 

Ein Rückgriff in das fotografische Archiv ist also in jedem Fall lohnend, schon allein da es zur Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit zwingt. Und natürlich vorausgesetzt, dass man nicht der Versuchung erliegt und bereits veröffentlichtes einfach nur neu aufgelegt, das Äquivalent zu einem müden Best-of Album einer in die Jahre gekommenen Band. Setzt man sich jedoch neu und ergebnisoffen mit dem Material auseinander, kann durchaus Neues entstehen. Und dies gilt insbesondere dann, sobald man sich von dem heute üblichen formal beschränkenden Diktat der sozialen Medien befreit, neue oder alte Erzählformen wählt. Eine Möglichkeit dies zu tun ist die Buchform mit ihren besonderen erzählerischen Möglichkeiten.

Nikotin greift demzufolge die vor langer Zeit entstandene gemeinsame Idee eines Bildbandes als Dokument der gemeinsamen Arbeit auf und ist gleichzeitig eine Überprüfung und Neubewertung von – über den Daumen geschätzt – etwa 30 Shootings. Ein einfaches Best-of in egal welcher Aufmachung und Zusammenstellung kann insbesondere mit Hinblick auf die stete Präsenz eben dieser Bilder in den sozialen Medien naturgemäß nicht überzeugen. Daher bietet also nur das Buch als lineares Medium die geeignete Umgebung für eine neue Aufbereitung und Auswahl des alten Materials. Am Ende dieser spannenden, selbst gesetzten Aufgabe stehen zwei schöne Edits, die jeweils ihrer drucktechnischen Verarbeitung als Medium angepasst sind – Marshall McLuhan lässt grüßen. Einmal als aufwendiges Buch mit Textileinband und Sonderverarbeitung, oder als leichter zu konsumierendes Heft mit Klammerheftung und Dünndruckpapier.

Beide stehen für sich selbst, beide haben ihre eigene Aussage. Eine positive selbstverständlich, da andernfalls das Ergebnis dieser konzeptionellen Überlegung möglicherweise der Druck auf Rolle - mehrlagig, soft und saugfähig – gewesen wäre. Womit wir natürlich wieder bei McLuhan wären …

Stand 05/22