Nochmal davon gekommen.

Von betrüblichen Befunden

"Wenn er fällt, dann schreit er" ist die am wenigsten drastische Zeile eines alten deutschen Kinderliedes - als Wasserleiche zu enden, von Raben oder Schnecken gefressen zu werden, sind im Vergleich sicher noch weniger erstrebenswert. Und doch lernen Kinder etwas wichtiges aus dem alten Kniereitvers. Der Reiter droht stets zu stürzen – nur um im letzten Moment wieder sicher aufgefangen zu werden. Kinder lernen, anderen und sich selbst zu vertrauen und dass Stürze etwas Natürliches sein können. Etwas, das keine dauerhaften Folgen hat. Außer der stolze Reiter landet in Teich, Hecke oder Graben.

Umso überraschter sind wir wenn wir, hilflos im Graben liegend, aus den Augenwinkeln dann tatsächlich die metaphorisch herbeieilenden Raben wahrnehmen. Was Momente zuvor noch eine Routinesituation war, wird plötzlich zu einem bedrohlichen Ereignis mit möglicherweise ganz betrüblichem Ausgang. Das kann während einer Autofahrt genauso sein wie beim Arztbesuch, während des Arbeitstages, beim Sport oder dem geselligen Abend mit Freunden.

Der Rauch eines mit Pyrotechnik ausgelösten Airbags löst Urängste und Panik aus, wohingegen ein Sturz im Wald in wohltuendes und vollständiges vergessen abgleitet. Der aufmunternde medizinische Ratschlag „… schonen Sie sich …“ kann sich schon wenige Stunden später als beispiellose Fehldiagnose erweisen; eine Routineoperation kann fehlgehen oder das Medikament der Wahl schlägt mehr und tiefere Wunden als die behandelte Krankheit. Die Gefallenen lernen stets schnell und suchen in den Augen des Gegenübers – meist ja des behandelnden Arztes oder Nothelfers - nach diesem leichten Schimmer, den Funken Hoffnung, eine Fähigkeit, die sich schnell und scheinbar automatisch einstellt und unter anderem schon von Erich Maria Remarque in seinem bekanntesten Buch verarbeitet wurde.

Tatsächlich lässt sich allein an den Augen – genauer, am ersten Augenkontakt – einiges über den Fortgang des Gesprächs und damit des eigenen Lebens ablesen. Ein kurzes Lächeln, ja nur ein freundliches Nicken kann mitunter schon euphorische Glücksgefühle und Zuversicht auslösen, gerunzelte Augenbrauen oder auch nur eine gewisse förmliche Verbindlichkeit lassen einen kalten Lufthauch über das blanke Hirn wehen.

Jedes Szenario ist anders, jeder geht anders mit der Feststellung der eigenen Endlichkeit um. Ebenso mit dem Bewusstsein „noch mal davongekommen zu sein“, dieses Mal Glück gehabt zu haben und wieder über den nächsten Tag hinaus planen zu können. Und doch, bei allem glücklichem Geschick bleibt nicht nur das Gefühl des Sieges, denn dieser Erfolg kommt meistens mit neuen Risiken und Nebenwirkungen, letztere nicht nur physischer Natur.

Schwere Nachwirkungen werden darüber hinaus oft mit einem Schulterzucken der Umgebung zitiert, meist ergänzt, um den Hinweis doch dankbar für das verbliebene zu sein. Die kleinen Gebrechen wirken über die Zeit, korrosiv wie Rost greifen sie das Bewusstsein an. Die Leichtigkeit des „davor“ ist nicht notwendigerweise vergangen, aber jenes starke Bewusstsein, das bis dahin nur den Siegerkranz gehalten hat, erweist sich dann als weitaus stärkerer Souffleur, an die eigene Vergänglichkeit erinnert. Ebenso schärft diese neue gewonnen Deutlichkeit mitunter den Sinn für das bereits erreichte, ermöglicht es zufrieden zu sein mit jenen Dingen, die sich bisher nicht wahrnehmen ließen, oder auch geringer geschätzt wurden.

 
 
 

Es ist das besondere Wesen der Fotografie immer in Flächenbildform gefangene Erinnerungen zu produzieren, portables Andenken oder monumentales Denkmal zugleich. Vielleicht ist dies sogar das entscheidende eigentümliche Element der Fotografie eindimensionale Erinnerungen zu fixieren, die ein Menschenleben lang eine ins Herz treffende Wirkung haben, nur um sich nach diesem Leben als Denkmal einer vergangenen Zeit als Okkasion auf den Wühltischen von Flohmärkten oder Sammlerbörsen wiederzufinden.

Zunächst waren diese Andenken nur selten und gleichzeitig flüchtig, da sich die frühen Daguerreotypien dem geneigten Auge nur im richtigen Betrachtungswinkel manifestierten. Später dann, nach der ersten Boomphase im 2. Kaiserreichs Frankreichs, seinen weltweiten Siegeszug auch beim ausgesprochen fotoskeptischen Erzfeind auf der anderen Rheinseite antretend, dessen feinmechanischen Fähigkeiten wesentlich zum steten und später ungebremsten Wachstum entscheidend beitrug. Die daraus entstandene, schon in der Zwischenkriegszeit oft kritisierte Bilderflut hat wie auch die Demokratisierung der Fotografie nach dem letzten Weltkrieg zu einer sich nunmehr täglich potenzierende Welle an diesen flächigen Denkmälern gesorgt. Der Mensch der Zeit setzt sich diese Denkmäler selbst; anders noch als vor wenigen Jahren verschwinden diese aber nicht hinter Pergament in sorgsam gehorteten Alben, sondern werden an öffentlichen Plätzen verschlagwortet und warten dort sorgenvoll auf die erhoffte Sichtbarwerdung und den so wohltuenden Zuspruch.

Die Fotografie hat an Wirkmacht verloren, zu trivial Ihr jederzeit verfügbares Wesen, das Monument auf eine handtellergroße Werbefläche reduziert. So jedenfalls scheint es. Und doch funktioniert sie noch genauso und vermag den Betrachter noch ebenso ins Herz treffen wie vor 50 oder 150 Jahren. Demokratischer gewiss, aber dennoch ist auch heute nur wenig Abstand ist nötig, mag sich etwas Zeit zwischen Fotografie und Realität geschoben haben und schon kann unsere Bildwahrnehmung eine völlig andere sein. Jemand der gestern noch eine alltägliche Begegnung war, erscheint plötzlich als eben jenes Denkmal, das uns dann umso mehr trifft, wenn das alltägliche einer neuen Realität gewichen ist.

Das hat die Fotografie ebenso mit dem häufig als Ergebnis einer militärischen Fahrlässigkeit in Metall gegossen Monument gemein, sie ist umso lebendiger umso weniger Leben in den aufgezeichneten Protagonisten weilt. Mit den in diesem Buch abgebildeten Menschen ist dies jedoch anders, sie sind noch da. Sie haben Schaden genommen und doch überlebt. Für die besonderen Momente, die dieser Produktion innewohnen, bedanke ich mich schon jetzt. Nur wenig hat mich so berührt wie die Sitzungen mit diesen besonderen Menschen. Diese neuen Bekanntschaften sind mir viel, sehr viel wert.

Denn wir sind noch da. Wir sind – noch einmal, dieses Mal, wieder Mal – davongekommen.



Für dieses Projekt treffe und fotografiere ich Menschen, die - wie es umgangssprachlich heißt -  “nochmal davongekommen” sind und sowohl mit der sich daraus ergebenden zweiten Chance als auch mit den damit einhergehenden Kollateralschäden umzugehen gelernt haben.

Umfang: ca. 120 Seiten,
Deutsch, Textil-Einband 2-farbig mit Prägedruck, Inhalt 4/4-farbig Kunstdruck, 170x20x240mm

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