Simulacra – Die Auflösung der Wirklichkeit
Szenenfoto, Westworld (2016), HBO.
Über die Auflösung der Grenze zwischen Echt und Künstlich.
In den vergangenen Tagen habe ich mehrere Kommentare zu meinem kurzen Text vom 8. Juni erhalten („Bigfoot vloggt jetzt“) – es gab Widerspruch. Im Wesentlichen, zusammengefasst, wurde ich daran erinnert, dass das Menschliche im Grunde immer erkennbar sei und wir im Leben, aber insbesondere auch in der Kommunikation, immer das Menschliche bevorzugen würden – also in diesem Zusammenhang beispielsweise die echte Fotografie einem synthetisch generierten Bild oder das echte Influencer-Video einem etwa mit VEO 3 erstellten Film den Vorzug geben. Heißt also: Selbst wenn die Simulation täuschend echt wirken mag – ohne die emotionale, wenngleich unsichtbare menschliche Ebene ist das Simulakrum nichts wert. Nur ein Gebilde, keine Inhalte.
Abgesehen davon, dass dies im Grunde exakt die gleiche Argumentation ist, wie sie mir gegenüber die mittlerweile im Wesentlichen ausgestorbenen Lithografen Anfang der 1990er-Jahre geäußert haben – „Ohne unsere menschliche Expertise wird die Druckvorstufe niemals funktionieren“ – kann ich mich dem, selbst mit Blick auf den Einzug der Robotik als nächsten Schritt, nicht anschließen.
In der ersten – und ganz bemerkenswerten – Staffel von Westworld stellt eine atemberaubend attraktive junge Frau dem ebenso jungen wie unsicheren Protagonisten eine einfache und doch für den Film und auch für unsere Betrachtung heute entscheidende Frage. Angesprochen darauf, ob sie nun echt oder ein synthetischer Host sei, antwortet sie:
„Well, if you can't tell, does it matter?“ –
auf Deutsch sinngemäß: „Wenn du den Unterschied nicht erkennst – spielt es dann eine Rolle?“
Es ist ein scheinbar simpler Gedanke, der in Wahrheit eine tiefe kulturelle und philosophische Zumutung enthält: Wenn man es nicht erkennt – spielt es dann eine Rolle? In einer Welt, in der künstliche Intelligenz immer stärker in kreative, soziale und emotionale Bereiche vordringt, berührt diese Frage einen Nerv. Sie stellt nicht weniger als die Grundlage unseres Verständnisses von Authentizität, Bedeutung und Menschlichkeit infrage.
Seit Jahrhunderten vertrauen wir darauf, dass wir unterscheiden können: Ein Mensch spricht anders als eine Maschine, ein echtes Foto zeigt die Welt anders als eine Zeichnung, ein Gedicht aus der Feder eines Dichters besitzt eine andere Tiefe als ein rein algorithmisch erzeugter Text. Doch was, wenn diese Unterscheidung unsichtbar wird? Was, wenn die Simulation perfekt wird?
Die erste Reflexion führt zur Erkenntnistheorie: Wenn das Unterscheidungskriterium Wahrnehmbarkeit ist – also ob der Mensch erkennen kann, was echt und was künstlich ist –, dann verliert die Grenze an Bedeutung, sobald sie nicht mehr wahrnehmbar ist. Das Turing-Test-Paradigma, einst als hypothetisches Gedankenexperiment gedacht, ist heute Alltag. Wir führen Gespräche mit Chatbots, lassen uns ganz selbstverständlich von Algorithmen leiten und konsumieren Inhalte, deren Realitätsgehalt wir längst nicht mehr zuverlässig bestimmen können. Unsere Realität wurde zunächst medial, dann virtuell und nun synthetisch – wir werden also im Grunde auf die Rolle von Platons Höhlen-Gefangenen reduziert. Oder genauer: Wir gewöhnen uns zunehmend an die Rolle des Zuschauers, der an die flimmernde Simulation mehr glaubt als an die Realität.
Die gelegentlich dokumentierten groben Schnitzer eines LLM oder eines selbstfahrenden Autos geben uns dabei noch das Gefühl, dem Errechneten überlegen zu sein. Dabei wäre schon jetzt ein ausschließlich aus selbstfahrenden Fahrzeugen bestehendes Verkehrssystem auf einen Schlag wohl deutlich sicherer – die Anzahl der Verkehrsopfer würde dramatisch reduziert werden.
Der häufigste Einwand gegen synthetische Systeme lautet: „Ihnen fehlt das Menschliche.“ Gemeint ist damit oft etwas Unausdrückbares: Erfahrung, Emotion, Intentionalität – das, was eine Maschine nicht haben kann, weil ihr die Existenz in einem bewussten Körper, in einer Welt aus Bedürfnissen, Leid und Freude fehlt. Dieses Argument stützt sich allerdings implizit darauf, dass der Unterschied auch erfahrbar bleibt. Ein Pflegeroboter mag die Herzlichkeit einer Umarmung simulieren – aber es ist „nur“ eine Simulation. Und der Mensch, der sie empfängt, weiß das.
Aber – und das ist das eingangs angesprochene Paradox – spielt das überhaupt eine Rolle? Wenn die Alternative lautet, einmal am Tag von einem schlecht gelaunten Pfleger für fünf Minuten zum Trocknen aufgehängt zu werden oder sich zu jeder Tages- und Nachtzeit mit seinem Pflegeroboter über Schach oder Shakespeare unterhalten zu können – wen werden wir wohl am Ende vorziehen? Und wen werden wir am Ende mehr mögen?
Der französische Soziologe Jean Baudrillard beschrieb diesen Zustand schon in den 1980er-Jahren als das Zeitalter des Simulakrums. In einer Welt, in der Zeichen, Bilder und Modelle nicht mehr auf eine Realität verweisen, sondern nur noch aufeinander, verschwindet die Wirklichkeit hinter ihrer eigenen Simulation. Baudrillard unterscheidet vier Stufen des Zeichens: vom getreuen Abbild über die Verzerrung bis hin zur Simulation, die keinen Bezug mehr zu einem Ursprung hat. Das Simulacrum ist nicht mehr eine Fälschung der Realität, sondern eine eigene Realität – Hyperrealität.
Szenenfoto, Westworld (2026), HBO. Die erste - und nur die erste - Staffel des Remakes des Originals von 1973 (Yul Brunner, Regie Michael Chrichton, MGM) ist wirklich empfehlenswert, auch - oder gerade heute.
Dabei bedarf es nicht einmal der in Westworld gezeigten perfekt „gedruckten“ Kopie. Die Simulation muss nur nah genug an der Realität sein – und wird allein über ihre reine Verfügbarkeit bereits zur validen Alternative. Doch was passiert, wenn dieser Unterschied nicht mehr spürbar ist? Wenn die Maschine Berührung, Stimme, Blick, Reaktion so perfekt imitiert, dass der Empfänger keinen Unterschied mehr bemerkt? Wenn die visuelle, akustische, taktile und sprachliche Oberfläche vollkommen glaubwürdig ist – bleibt dann das Fehlen innerer Bewusstseinszustände weiterhin ein Argument? Oder wird diese Debatte dann – ganz selbstverständlich – überhaupt nicht mehr geführt?
Schon jetzt entstehen in der Werbung, im Journalismus, in sozialen Medien und in der Kunst Bilderwelten, deren Referenz zur Wirklichkeit bestenfalls noch behauptet wird. Die semantische Bedeutung des Bildes – „So ist es gewesen“ – kollabiert zugunsten einer Ästhetik der reinen Glaubwürdigkeit: Es wirkt echt. Es bestätigt mich – und das, woran ich glaube. Also funktioniert es.
Das führt uns zu einer performativen Wende. Bedeutung entsteht nicht mehr aus der ontologischen Herkunft – echt oder künstlich –, sondern aus der Wirkung: Was löst das Bild, der Text, die Stimme im Betrachter aus? In einer Gesellschaft, die auf Aufmerksamkeit, Emotionalität und Wirkung optimiert ist, verschiebt sich die Frage von „Ist es echt?“ hin zu „Erfüllt es seine Funktion?“
Ob ein Avatar im Kundenservice menschlich ist oder nicht – spielt keine Rolle, solange er Empathie simuliert und das Problem zu lösen in der Lage ist. Ob ein Influencer-Video real oder KI-generiert ist – ist unerheblich, solange es Klicks, Likes oder Verkäufe erzeugt.
„Wenn man es nicht erkennt – spielt es dann eine Rolle?“ Die Antwort darauf ist in vielen Kontexten: Nein, es spielt keine Rolle. Die Gesellschaft lernt, dass Authentizität nicht mehr an das Echte gebunden ist, sondern an die überzeugende Simulation. Es mag sein, dass je mehr die Welt synthetisch wird, desto mehr wächst auch das Bedürfnis nach dem „wirklich Wirklichen“ – nach Berührung, nach Begegnung, nach Bildern, deren Wahrheit nicht in ihrer Perfektion liegt, sondern gerade in ihrer Unvollkommenheit.
Wahrscheinlicher jedoch ist: Das „wirklich Wirkliche“ wird in bestimmten Bereichen keine Rolle mehr spielen, bedeutungs- und damit wohl auch wertlos sein. Der Satz aus Westworld – „Wenn du den Unterschied nicht erkennst – spielt es dann eine Rolle?“ – ist letztlich nichts anderes als eine moderne Übersetzung von Baudrillards Diagnose. In der Hyperrealität wird die Frage nach Authentizität bedeutungslos. Realität ist, was wirkt. Oder genauer: Realität ist das, was als Realität geglaubt wird.