Bilder, die man nicht sehen soll

Von der Straßenbahn in Charlotte bis zur Timeline der höhnischen Gesichter

Zwei Morde, zwei Tode durch Verbluten. Bildwelten, die man nicht sehen soll.

In Charlotte stirbt Iryna Zarutska. Zierlich, überrascht, hilf- und wehrlos sitzt sie in der Straßenbahn, Sekunden bevor ein Mann – groß, bedrohlich, schwarz – ihr ansatzlos mit dem Messer den Hals aufschneidet. Das Standbild der Überwachungskamera hält den Moment fest: Täter und Opfer in einer Choreografie, die zu eindeutig ist, zu politisch brisant – „I’ve got the white girl“. Sie verblutet auf dem Boden der Bahn, während andere Fahrgäste danebenstehen, daneben-sitzen, wegsehen, weggehen. Keine von uns, das geht uns nichts an – weder in der Straßenbahn noch in den Medien. Erst nach einem veritablen Aufschrei auf X zieht wenigstens – wenn auch widerwillig – die Wikipedia nach.

Wenige Tage später: Charlie Kirk. Nicht in der Bahn, sondern im vollen Lauf seines Lebens, seiner Arbeit, seiner Provokationen. Eine Kugel, ein Halsdurchschuss. Auch er verblutet – noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Hier gibt es kein einzelnes Bild, sondern ein digitales Trommelfeuer: Twitter, Instagram, TikTok – die Häme, der Spott, das blanke Feixen. Ein nachträglicher Lynchmob aus Memes und Reels. Wer Kirk hasste, feiert. Wer ihn nicht mochte, erklärt den Mord zum Ergebnis seiner eigenen Rhetorik. Wer ihn verteidigt, muss sich rechtfertigen. Der mediale Spott wird flankiert von sich rasend schnell verbreitenden Spickzetteln mit teils den abstrusesten Vorwürfen.

Zarutskas Tod widerspricht einem Dogma, das in den letzten Jahren zur unhinterfragten Lehrmeinung erhoben wurde: dass Rassismus immer und ausschließlich von Weißen ausgehe. Dieses Dogma ist nicht nur empirisch brüchig, es hält auch einer nüchternen wissenschaftlichen Betrachtung nicht stand. Rassismus ist kein geographisch fixierter Reflex, kein genetisch bedingtes Vorrecht einer Hautfarbe, sondern eine universelle Möglichkeit der Abwertung und Gewalt. Wer Iryna Zarutska in dieser Straßenbahn sieht – klein, überrascht, hilflos, und hinter ihr den Mann, der Sekunden später ihr Leben beendet –, erkennt unmittelbar, wie unhaltbar diese zur Doktrin verfestigte Theorie ist. Doch gerade weil dieses Bild die Lehrmeinung durchbricht, darf es nicht zur Ikone werden, darf es nicht ins massenhafte Bewusstsein geraten. Es muss geschluckt, verdrängt, in eine Fußnote verwandelt werden. So wird aus einem Verbrechen eine regionale Nachricht, aus einem Mord ein bloßes „Vorkommnis“. Das Schweigen übernimmt die Funktion der Kontrolle: Was nicht breit berichtet wird, kann keine Fragen stellen und keine Dogmen gefährden.

Charlies Kirks Tod zeigt einen anderen Mechanismus. Hier gibt es kein Schweigen, keine Zurückhaltung – im Gegenteil: Der Tod selbst wird zum Anlass für eine Kakophonie der Rechtfertigungen. Statt Schock, statt Abscheu, statt jenem Minimum an Respekt vor der Gewalt, die einen Menschen aus dem Leben reißt, setzt eine Welle der Schmähung ein. In den sozialen Medien überschlagen sich Kommentare und Bilder, die nicht nur Häme transportieren, sondern den Mord inszenieren, als sei er ein längst verdientes Ende. Das Narrativ, das hier gestützt wird, ist eindeutig: Wer so lange das Weltbild anderer in Frage gestellt hat, trägt am Ende selbst Schuld an seinem Tod. Die rhetorische Markierung als „rechtsradikal“, „faschistisch“, „gefährlich“ dient doppeltem Zweck: Sie grenzt nicht nur ab, sie legitimiert. Aus dem politischen Gegner wird der moralische Außenseiter, aus dem Außenseiter der Feind, und aus dem Feind jemand, dessen körperliche Vernichtung kaum mehr als Unrecht empfunden wird.

So zeigen diese beiden Fälle zwei Seiten derselben Medaille: Im einen Fall wird das Bild ausgelöscht, weil es nicht ins Raster passt; im anderen wird es überdeckt durch eine Flut von Zuschreibungen, die den Mord als beinahe schon logische Konsequenz erscheinen lassen. Das eine Opfer verschwindet im Schweigen, das andere im Lärm. In beiden Fällen aber wird das gefährliche Bild – das Standbild der Straßenbahn, die höhnischen Fratzen aus den Timelines – neutralisiert. Nicht das Ereignis zählt, sondern seine Deutung.

Das Muster ist bekannt: Das gefährliche Bild wird unschädlich gemacht, bevor es wirken kann. Was man nicht verschweigen kann, versieht man mit einem Etikett, das seine Sprengkraft entschärft. Doch das Standbild bleibt. Das Blut bleibt. Das Schweigen bleibt. Und das Feiern des Mordes bleibt – ein Spiegel, in dem die moralische Überlegenheit jener, die sich für die Guten halten, schärfer und kälter erscheint als jede politische Polemik.

Die Bilder, die man nicht sehen soll, sind immer die, die mehr Wahrheit enthalten, als das Narrativ ertragen kann.

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Das Bild wird Bühne – Inszenierungen der Ferne