Fotografie am Limit
Kürzlich stieß ich auf ein Instagram-Profil, das fotografisch vieles und medientechnisch beinahe alles richtig macht. Durchgängig in Schwarz-Weiß gehalten, konsequent in Look und Motiv, zeigt der Kanal attraktive junge Frauen in sorgfältig ausgeleuchteten Porträts, makellos bearbeitet. Zahlreiche kurze Making-of-Videos vermitteln Nähe und Authentizität – ein kluges Mittel, um in einem an sich distanzierten Medium wie den sogenannten sozialen Medien Vertrauen aufzubauen.
Kurz: ein ansprechendes, professionell wirkendes Profil, selbstbewusst und zugleich transparent – eines, von dem man meinen könnte, es ließe sich noch etwas über Fotografie lernen. Nur: Alles – wirklich alles – ist synthetisch. Sämtliche Inhalte, ob Foto oder Video, Texte, Blogbeiträge, die Promotion des Kanals, die Kommunikation, sogar das Profilbild – alles errechnet. Real sind einzig die Reaktionen der Follower.
Dieses Beispiel wirkt wie eine Fußnote zu einer der bekanntesten Prognosen über künstliche Intelligenz. Irving J. Good, Mathematiker und während des Zweiten Weltkriegs an der Entzifferung der Enigma beteiligt, schrieb 1965:
„Let an ultraintelligent machine be defined as a machine that can far surpass all the intellectual activities of any man however clever. Since the design of machines is one of these intellectual activities, an ultraintelligent machine could design even better machines; there would then unquestionably be an ‘intelligence explosion’, and the intelligence of man would be left far behind. Thus the first ultraintelligent machine is the last invention that man need ever make.“
Goods Gedanke ist radikal: Sobald eine Maschine Maschinen entwerfen kann, überholt sie den Menschen endgültig. Mit ihr würde die „letzte Erfindung“ entstehen – ein Punkt, an dem menschliche Kreativität im eigentlichen Sinn überflüssig würde.
Je nach Schätzung liegt die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer „starken“ KI zwischen später heute und dem Jahr 2090 – weitgehend einig ist man sich immerhin, dass es wohl in den nächsten 20 Jahren geschieht. Ein Szenario, das man mit einem gewissen Augenzwinkern durchaus „Schrödingers Wahrscheinlichkeit“ nennen könnte.
Was wir heute erleben, ist davon noch weit entfernt, wird aber gern als „KI“ vermarktet: die massenhafte Verfügbarkeit und Banalisierung probabilistischer Sprachmodelle. Je mehr sie genutzt werden, desto sichtbarer sind ihre Spuren – in E-Mails, Bewerbungen, Social-Media-Posts. Ein erheblicher Teil alltäglicher Kommunikation ist mittlerweile durchsetzt mit den überhöhten Floskeln angloamerikanischer PR-Kultur, die im Deutschen oft fremd wirken.
Besonders junge Talente in Management und Kreation nutzen diese Werkzeuge begeistert. Sie sparen Zeit, produzieren scheinbar gelungene Texte – und merken nicht, wie deutlich die synthetische Handschrift bleibt. Denn ein Sprachmodell ist, bei allem Fortschritt, letztlich ein Formulierautomat: empathieunfähig, vorsichtig und dadurch unverkennbar. Noch.
In der Fotografie glaubt man, synthetische Bilder spätestens beim genauen Hinsehen entlarven zu können – etwa an der Zahl der Finger. Solche frühen Fehlstellen generierter Bilder haben sich in unserem Bewusstsein verankert. Dabei hält sich der durchschnittliche Nutzer ohnehin für medienkompetenter, als es deutsche Gerichte annehmen, die dem Konsumenten kaum mehr Urteilskraft zutrauen als einer verspielten Katze – was, gemessen an der von der Aufmerksamkeitsökonomie geprägten Konzentrationsspanne, nicht völlig falsch ist.
Es ist wie mit CGI im Kino: Wir erkennen es, wenn wir es sehen. Und genau darin liegt das Paradox – wir erkennen es, weil es trotz aller Realitätsnähe immer noch zu perfekt wirkt. Wenn sich Superhelden in einem gewaltigen Skybeam in Super-Slo-Mo prügeln, ist das eindeutig CGI; dass jedoch Beth Harmon in The Queen’s Gambit nicht in Las Vegas, sondern im alten Restaurant der Messe Berlin spielt, fiel wohl den wenigsten auf – auch wenn der Ort vage vertraut wirkte.
So auch beim beschriebenen Profil – inzwischen nur noch eines von vielen, mal als Kunstprojekt, mal als Versuch, passives Einkommen zu generieren. Die „Nagelprobe“ der Erkennbarkeit liegt längst nicht mehr im Motiv: Die offensichtlichen Fehler betreffen Perspektive, Fluchtpunkte und verschmelzende Details im Hintergrund. Noch entlarvt das fehlende Ökosystem einen synthetischen Fotografen: Es gibt keine realen Modelle, Stylisten, Visagisten, die seine Fiktion stützen. Doch selbst aufwendige Making-of-Videos taugen inzwischen nur noch bedingt zur Unterscheidung.
Synthetische Fotografie ist letztlich Fotografie am Limit – errechnet, um zu gefallen. Was wir dort sehen, ist nicht das Künstliche, sondern das Hyperreale: jenes Künstliche, das am Ende eines langen Entwicklungsprozesses steht und uns einen Spiegel vorhält: So also stellt ihr euch Schönheit vor – in ihrer Inszenierung für soziale Medien.
Jean Baudrillard hätte dazu wohl nur gelächelt: Nicht mehr das Bild imitiert die Realität – die Realität läuft längst dem Bild hinterher. Und vielleicht ist das tröstlich. Denn wenn Goods „erste ultraintelligente Maschine“ je entsteht, wird sie auch das Bedürfnis nach menschlicher Fotografie – nach jedem menschlichen Ausdruck – überflüssig machen.