Es lebe das digitale Koma

Prompt: A beautiful homemade video showing the people of Lagos, Nigeria in the year 2056. Shot with a mobile phone camera. - c https://openai.com/sora

Wir werden die Träume von Maschinen träumen.

 Vor Kurzem hat OpenAI erste Clips gezeigt, die mit Sora erstellt wurden. Diese Clips – obwohl sie sicherlich die momentan bestmöglichen Beispiele darstellen – beeindrucken sowohl durch ihre Konsistenz als auch durch den Grad an scheinbarer Realität, den sie erreichen. Die gezeigten Beispiele überzeugen in ihrer Qualität, Darstellung und Länge, alle basierend auf einem verhältnismäßig einfachen Text-Prompt.

 In ersten Reaktionen auf Sora finden sich viele warnende Stimmen, die befürchten, dass dies inbesondere die sogenannten „Fake-News“ in Zukunft weiter begünstigen wird. Ich teile diese Befürchtung nicht; stattdessen werden wir sehr schnell lernen, audiovisuellen Medien jeglicher Art mit erhöhter Skepsis zu begegnen. Es ist vielmehr zu erwarten, dass der eine oder andere Missetäter den Videobeweis seines tête-à-tête glaubhaft als synthetisch generiert disqualifizieren kann. Je nach Quelle wird es zukünftig mitunter schwierig sein, die Authentizität eines Videos zu belegen: Das Ton- oder Videodokument als unbestreitbare Tatsache wird wohl bald der Vergangenheit angehören.

Was Sora jedoch auch aufzeigt, ist die noch ferne Möglichkeit, eine auf individuelle Wünsche und Bedürfnisse maßgeschneiderte Realität zu kreieren. Die präsentierten Beispiele öffnen ein Fenster in eine erkennbare Zukunft, in der es dem Einzelnen ermöglicht – oder gar auferlegt – wird, sich in seiner eigenen, synthetisch erschaffenen Realität zu verlieren. Diese Realität muss nicht zwangsläufig Teil eines größeren Ganzen, einer Matrix, sein, sondern kann ganz individuell und fortlaufend generiert werden, angepasst an die persönlichen Vorlieben und Wünsche. Sie kann Schnittstellen zu anderen synthetischen Realitäten bieten, muss dies jedoch nicht.

 Aus philosophischer Sicht besprechen Jean Baudrillard und teilweise Paul Virilio das Thema der virtuellen Realität. Virilio beschreibt, wie diese Technologien direkte, physische Erfahrungen ersetzen können, was zu Desorientierung und einem Verlust an physischer Präsenz führt, von ihm als „Verlust des Realen“ beschrieben. Baudrillard argumentiert in Werken wie „Simulacra and Simulation“, dass in der postmodernen Gesellschaft die Unterscheidung zwischen Realität und Simulation zunehmend verschwimmt.

Prompt: Historical footage of California during the gold rush. - c https://openai.com/sora

 Er führt das Konzept des „Hyperrealen“ ein, eine Realität, die durch die Simulation so perfekt nachgebildet wird, dass sie zu ihrer eigenen Realität wird, ununterscheidbar von der „wirklichen“ Realität und in gewisser Weise „realer“ als die Realität selbst. Diese hyperreale Welt ist geprägt von Simulationen, die nicht mehr auf einer vorherigen Realität basieren, sondern auf Vorstellungen und Modellen, die sich selbst erzeugen und verstärken. Dies könnte zu einer „Desertifikation des Realen“ führen, einem Zustand, in dem die reale Welt als weniger interessant oder bedeutend wahrgenommen wird als die simulierten Welten, die wir erschaffen.

 Sowohl Baudrillards als auch Virilios Ideen finden sich in dem erfolgreichen Sci-Fi-Thriller „Die Matrix“ wieder, selbstverständlich in sehr dramatisierter Form. Hier – wie auch in der Vielzahl ähnlicher Erzählungen in Buch- oder Filmform – ist es üblicherweise eine zentrale Simulation, die von virtuellen Teilnehmern bevölkert und von einer unsichtbaren, meist bösen Hand gesteuert wird. Im Grunde handelt es sich dabei um die Fortführung des Konzepts des Computerspiels, nur immersiver. Sora jedoch zeigt auf einen anderen Aspekt, der nicht mehr dem Gedanken der simplen Übertragung unserer systemischen Realität in ein virtuelles Spielfeld folgt.

 Vielmehr wird es nun gut vorstellbar, dass sich für jeden Teilnehmer eine einzigartige hyperreale virtuelle Welt konstruieren lässt, die – genau wie von Baudrillard vorhergesehen – auf individuellen Vorstellungen und Ideen aufbaut, sich selbst erzeugt und verstärkt. Die Simulation wird zur Simulacra; sie ist keine Kopie von etwas Realem und benötigt ebenso die Realität nicht länger als Vorlage.

 Entwicklungen wie Sora ermöglichen uns heute eine Vorstellung davon, wie es sich in einer Zukunft anfühlen kann, in der jeder gewünschte Realität auf Anforderung geben kann – Realität on Demand, ganz nach eigenen Vorlieben und Neigungen, die anders als in den genretypischen Darstellungen nicht länger im Netzwerk einer Matrix oder eines virtuellen Spielfeldes eingebunden ist. Eine Form des maßgeschneiderten Eskapismus, digitales Morphium, das sich in einer Zeit anbietet, in der absehbar jede Form der menschlichen Arbeit günstiger oder besser von Maschinen erledigt werden kann – nutzlos gewordenes Menschenmaterial auf einem digitalen Abstellgleis, ruhiggestellt mit einer Überdosis panem et circenses.

Sora halluziniert: Prompt: Archeologists discover a generic plastic chair in the desert, excavating and dusting it with great care. - c https://openai.com/sora

 Denn letztlich verbirgt sich hinter dem „Verlust des Realen“ die Frage nach der Notwendigkeit des Realen. Benötigen wir die Realität oder ist die Hyperrealität der Simulation nicht notwendigerweise attraktiver – und, um hier ein grausames Modewort zu verwenden – „nachhaltiger“? Das mag erschreckend oder gar gruselig wirken, tatsächlich jedoch würde sich sehr bald die Frage stellen, ob es überhaupt eine Rolle spielt, wenn doch die Hyperrealität ganz präzise mit meiner eigenen Erwartung übereinstimmt, mich – ähnlich einer Blase in beispielsweise den sozialen Medien heute – immer bestätigt, nie in Frage stellt. Ob echt oder synthetisch – welche Rolle spielt das, wenn kein Unterschied erkennbar ist?

 When reality deserts, it turns into a pudding – und ich hätte dann gern die Crema Catalana.

 

Sora: https://openai.com/sora

Buchempfehlungen dazu:

Jean Baudrillard - Simulacra and Simulation 
Paul Virilio - Die Sehmaschine

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