Fotografie verstehen mit Roland Barthes

Irgendwann stellt sich für die meisten Fotografen – ebenso wie für alle Fotografierenden – die Sinnfrage. Früher für die einen, später die anderen. Was ist mein Ziel? Was möchte ich der Welt mitteilen? Wieviel preisgeben? Und so – sei es durch die Empfehlung eines Freundes oder den Algorithmus von Amazon - wendet man sich französischen Postmoderne-Philosophen zu und findet als Fotograf ganz notwendigerweise zu Roland Barthes' "Die helle Kammer". Nur um sich nach der Lektüre zu fragen: Quoi?

 

Roland Barthes, seines Zeichens (!) französischer Semiotiker und Philosoph, bereicherte die Welt durch sein letztes Buch „La chambre claire“ mit einem bis heute relevanten Text der Theorie zur Fotografie.

Barthes nimmt dort eine halbautobiografische Perspektive ein, um die Fotografie als ein Medium zu beschreiben, das die einzigartige Fähigkeit besitzt, gleichzeitig Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Tod zu vermitteln. Das Buch ist teils Essay, teils philosophische Betrachtung und entstand nach dem Tod seiner Mutter, als Barthes sich intensiv mit ihrem fotografischen Nachlass auseinandersetzte. Die Helle Kammer wird daher oft nicht nur als theoretische Untersuchung der Fotografie angesehen, sondern auch als intime Reflexion über die Sterblichkeit.

Er beschreibt die Fotografie als ein Medium, das unwiederholbar existenzielle Momente mechanisch festhält und somit deren Existenz bezeugt. Eine Existenz, die „so gewesen ist“ (Orig.: "ça-a-été"), und sonst nichts. Dies kann heute, im Zeitalter der künstlichen Bildproduktion nur noch für die Fotografie, nicht jedoch mehr das synthetische Bild.

Für den Fotografen – den „Operator“ - führt Roland Barthes zwei zentrale Konzepte ein, die für das Verständnis seiner Theorie der Fotografie wesentlich sind: dass "studium" und das "punctum":

Das "studium" bezieht sich auf den bewussten, oft kulturell bedingten Teil der Wahrnehmung einer Fotografie. Es ist das, was in einem Foto als thematisch, historisch, politisch oder sozial interessant wahrgenommen wird; die offensichtliche Bedeutung, die auf den ersten Blick erfasst wird. Das studium ermöglicht eine analytische Annäherung an das Bild, bei der der Betrachter auf Grundlage seines persönlichen kulturellen Hintergrunds und seiner Bildung das Bild interpretiert. Es ist das Element des Fotos, das allgemein anerkannt und verstanden wird, die Ebene der Fotografie, die uns informiert und eine allgemeine Interaktion mit dem Bild ermöglicht.

Das "punctum" hingegen ist jenes Detail in einem Foto, das den Betrachter emotional berührt, oft ohne dass er es sofort rational erklären kann. Es ist ein Element, das unerwartet aus dem Bild "heraussticht" und eine persönliche Reaktion oder Resonanz erzeugt, die über das allgemeine Verständnis (das studium) hinausgeht. Das punctum ist hochgradig subjektiv; es variiert von Betrachter zu Betrachter, abhängig von individuellen Erfahrungen, Erinnerungen und Emotionen. Es kann sich um ein kleines Detail handeln – einen Blick, ein Objekt im Hintergrund, eine Geste – das den Betrachter emotional "trifft" und ihm das Gefühl gibt, dass das Foto auf einer tieferen, persönlichen Ebene mit ihm kommuniziert.

Barthes spricht im Buch über ein Foto seiner Mutter als Kind, in dem er Aspekte ihrer späteren Persönlichkeit zu erkennen glaubt. Hier wird das punctum nicht nur durch das sichtbare Bild selbst vermittelt, sondern auch durch die persönlichen Erinnerungen und Gefühle, die es bei Barthes auslöst.

Die persönliche Bindung ist die oft wahrscheinlichste wie auch naheliegendste Art, wenn wir von einer Fotografie „getroffen“ bzw. berührt werden. Diese Verbindung kann sich auf eine Vielzahl von Motiven erstrecken, von Familienmitgliedern und Freunden bis hin zu alltäglicheren Gegenständen, oder dem ersten eigenen Foto, der ersten Veröffentlichung oder einem Bild, das einen besonderen Augenblick symbolisiert – häufig ein flüchtiger Moment, der sich nicht notwendigerweise in der Fotografie selbst finden muss. Meist ist es ein Gefühl der Sentimentalität, das uns erfasst; das Foto wird zur Brücke und verweist auf einen besonderen, doch gleichwohl verlorenen Moment in der Vergangenheit.

Für den Fotografen jedoch, mag die persönliche Bindung in Bezug auf die Außenwirkung zunächst scheinbar von untergeordneter Bedeutung sein. Doch beim späteren Betrachten der eigenen, älteren Fotografien tritt der sentimentale Wert in den Vordergrund. Oft sind es gerade die fotografischen Randnotizen, die in ihrer Unvollkommenheit nun die größte emotionale Wirkung entfalten – ein wichtiger Grund, beim Löschen alter Daten äußerst vorsichtig zu sein. Duffy, der neben Bailey und Donovan als einer der drei ebenso berüchtigten wie berühmten Fotografen der englischen Swinging Sixties gilt, hat sein gesamtes Archiv im Hof seines Studios verbrannt und sich sowie die Nachwelt damit um die Möglichkeit des stetigen Diskurses und der Neubewertung seines Werkes gebracht.

Koen Wessing, Niceragua 1979

Über persönliche Aspekte hinaus verweist Barthes auf weitere fotografische Arbeiten, wie beispielsweise eine Aufnahme von Richard Avedon, die einen ehemals versklavten Amerikaner porträtiert oder jenes Bild eines Straßengeigers von Kertész, das den Staub und die Atmosphäre des Balkans in der Zwischenkriegszeit eindrucksvoll einfängt. Zudem beschreibt er eine Aufnahme aus dem Konflikt in Nicaragua, in der zwei Nonnen, anscheinend unbeeindruckt von der umgebenden Kriegsszenerie, eine Straße im Hintergrund überqueren. Diesen Bildern ist stets eine besondere Dualität gemein, bei Avedon im Kontext der Aufnahme, bei auf emotionaler Ebene und bei der Fotografie von Koen Wessing aus Nicaragua im scheinbar offensichtlichen Kontrast der Soldaten und Nonnen.

“Das punctum aber ist dies: er wird sterben.” - Roland Barthes.
Lewis Payne, Fotografie von Alexander Gartner, 1865.

Noch einfacher wird es bei Alexander Gardners Porträt von Lewis Payne, dem zu diesem Zeitpunkt bereits inhaftierten und auf die Vollstreckung seines Todesurteils wartenden Mitverschwörer des Lincoln-Attentats 1865. Roland Barthes schreibt dazu: „Das Foto ist schön, schön auch der Bursche: das ist das Studium. Das punctum aber ist dies: er wird sterben. Ich lese gleichzeitig: das wird sein und das ist gewesen; mit Schrecken gewahre ich eine vollendete Zukunft, deren Einsatz der Tod ist.“

Das Konzept einer jeder Fotografie innewohnenden sachlichen, beschreibenden Ebene sowie einer potenziell wirksamen Metaebene lässt sich beispielhaft anhand einer besonderen Fotografie aus der deutschen Geschichte erläutern. Diese Aufnahme zeigt das Gemeinschaftsgrab dreier Soldaten an der Havel bei Berlin, im Hintergrund ist lebhafter Badebetrieb zu erkennen. Vermutlich noch im Jahr 1945 aufgenommen, trennt die im Grab beigesetzten Soldaten – so nah an der Havel – nur eine dünne Schicht Erde vom lebendigen Treiben der davongekommenen, deren Todesangst der letzten Kriegstage in Berlin nun in der fotografischen Gegenwart in neue Lebensfreude und -lust übergegangen ist. Die sachliche, allgemeine Bedeutung der Fotografie umfasst sowohl das Grab als auch die Badenden. Im Internet finden sich weitere Aufnahmen desselben Tages; der Fotograf hat zunächst das Soldatengrab in klassischer Weise fokussiert – ganz so, wie es jedes Lehrbuch der Fotografie auch heute noch empfehlen würde. Doch nur die Aufnahme, die auch den lebendigen Hintergrund einbezieht, bietet zusätzlich zu dem studium der Realität im Berlin der Nachkriegszeit ein Punctum der Tragödie zur Betrachtung an, diese Soldaten müssen in den letzten Tagen, wenn nicht Stunden des Krieges gefallen sein – nur wenig trennt sie vom Glück der lebenden.

Koexistenz zwischen studium und punctum. Soldatengrab an der Havel, vermutlich 1945, Verfasser unbekannt.

Barthes' Theorie scheint auf den ersten Blick mit den semiotischen Konzepten von Denotat und Konnotat verwandt zu sein; Denotat und studium konzentrieren sich auf allgemeinere, leichter zugängliche Bedeutungen, während Konnotat und punctum die tieferen, persönlichen und oft unerwarteten Ebenen der emotionalen Reaktion und Bedeutung erfassen. Ein wesentlicher Unterschied, insbesondere im Vergleich von Konnotat und punctum, liegt darin, dass Ersteres die assoziativen, oft subjektiven und kulturell geprägten Bedeutungen umfasst, die über die direkte Darstellung hinausgehen – wie beispielsweise die Assoziation einer Taube als Symbol des Friedens. Barthes‘ punctum hingegen ist jenes persönliche Element eines Fotos, das den Betrachter emotional berührt und eine individuelle Reaktion hervorruft, die sich nicht zwangsläufig im semiotischen oder gesellschaftlichen Kodex einer Gesellschaft erklären lässt.

Aus Barthes' Konzept lässt sich ableiten, dass eine wirkungsvolle Fotografie in der Regel auf einer besonderen Form der Dualität beruht; dabei muss "wirkungsvoll" nicht unbedingt "bildlich ansprechend" bedeuten. Die Fotografie einer schönen Frau oder eines attraktiven Mannes mag ihre Wirkung nicht verfehlen, wird jedoch wahrscheinlich keinen nachhaltigen Eindruck beim Betrachter hinterlassen. Dies gilt umso mehr, als dass in den synthetischen Bildwelten der Moderne die Aufmerksamkeitsökonomie eine fast unerbittlich selektive Rolle spielt. Dennoch gibt es Fotografien, auf denen das scheinbar einfachste und vergänglichste Rezept der Fotografie – Schönheit ansprechend darzustellen – genug Betrachter berührt hat, um nicht nur die Bilder selbst, sondern auch deren Motive unsterblich zu machen, wie beispielsweise Richard Gere durch Herb Ritts oder Kate Moss durch Mario Sorrenti.

Bressons “Entscheidender Moment” als Barthes punktum. F.C. Gundlach - Bernadette, Kleid von Lanvin, Paris 1966

Roland Barthes bietet mit seiner Theorie eine nuancierte Antwort auf die Frage nach der eigentlichen Rolle des Fotografen. Wenn wir Mitchell folgen, strebt das Bild nach Öffentlichkeit. Somit beschränkt sich die Aufgabe des Fotografen nicht nur auf die Gestaltung oder die oft zitierte Wahl des Bildausschnitts. Die Aufgabe liegt vielmehr darin, den Betrachter berühren zu wollen. Dafür sind nicht zwingend sozialkritische Fotografien oder dramatische Kriegsbilder erforderlich; auch in der von Barthes auf ihre „merkantile Bedeutung“ reduzierten Mode- oder Werbefotografie lässt sich der Drang nach einem Punctum finden.

F.C. Gundlach - Brigitte Bauer in einem Badeanzug von Sinz, 1966. Titel des Buches Vanitiy Fashion, 2011. Collection FC Gundlach.

F.C. Gundlach deckt mit seiner Fotografie sowohl die banalste Form der Bebilderung der frühen deutschen Yellow Press als auch ambitionierte Mode- und Porträtfotografie ab. Vieles davon ist heute undenkbar, wie beispielsweise seine im Nahen Osten entstandenen Werbestrecken. Das Berührende, das Treffende auch in der Modefotografie lässt sich beispielhaft im Auswahlprozess der in Annabelle 8/1966 erschienenen Fotografie von Bernadette finden. Der noch vorhandene Kontaktbogen zeigt 24 typische Modefotos, zwei Auslösungen jedoch zeigen Bernadette im Schatten ihres eigenen Hutes als Silhouette. Diese Fotografie wirkt geheimnisvoller und ermöglicht oder erleichtert so ein Punctum beim Betrachter.

Obwohl sich Modefotografie an ein spezifisches Publikum oder eine bestimmte Zielgruppe richtet, hat sie nicht nur die Aufgabe sondern auch das Potenzial, auch heute noch zu berühren. Es kann ein ästhetisch besonderer Aspekt sein, der eine Fotografie für den Betrachter herausragen lässt und sie aus einem Meer gleichförmiger Fotografien hervorhebt. Ein weiteres Beispiel ist die Fotografie von Brigitte Bauer in einem Badeanzug von Sinz, die 1966 in Griechenland entstand und durch ihr stark grafisches Element sehr treffend erscheint. Das Gleiche gilt für die ebenfalls von Gundlach inszenierte Bademode an den Pyramiden, deren Missverhältnis zwischen Kleidung und Location sie ebenso bemerkenswert wie heute undenkbar macht.

Auf drastischere Weise veranschaulicht eine Fotografie von Nadav Kander die Ideen von Barthes. 2011 inszenierte Kander den britischen Rapper Tinie Tempah, mit geschlossenen Augen und einer Narrennase, die – einem Damoklesschwert gleich – zu drohen scheint, auf sein Gesicht geschossen zu werden. Das „studium“ eines Künstlerporträts wird hier ergänzt durch unser Mitgefühl als potentielles punctum – das im barthes'schen Sinne Getroffensein ist hier ganz wörtlich umgesetzt.

Roland Barthes beschreibt nicht die „gute“ oder auch nur die „richtige“ Fotografie. Sein – übrigens mit nur wenig über 130 Seiten sehr versandfreundliches – Buch beschreibt aber die der Fotografie stets innewohnende besondere Dualität, dass es eines Besonderen bedarf, um eine Fotografie über die korrekte Ausführung hinaus bemerkenswert und vielleicht sogar zeitlos werden zu lassen. Ein bemerkenswertes Paradoxon ist, dass beispielsweise eine besonders gefällige Bearbeitung oder ein besonderer Look unter Fotografierenden wie ein punctum wirken kann, verliert jedoch seine Wirkung außerhalb der Szene. Dennoch ist es beinahe immer das zweite Element, die ergänzende Ebene, die aus richtigen, aus schönen Bildern besondere Fotografien macht.

Barthes hat „Die helle Kammer“ vor mehr als vier Jahrzehnten fertiggestellt. Seitdem hat sich die Welt der Bilder mehr als dramatisch verändert. Der Besitz eines Fotoapparates im Haushalt im Jahr 1980 war nicht unbedingt üblich, während heute moderne Smartphones jährlich weit über eine Billion Bilder produzieren. Die beschauliche Auseinandersetzung mit dem Nachlass seiner Mutter führte Barthes zu seiner Theorie; die digitalen Nachlässe der Neuzeit werden in Zukunft entweder auf veralteten Datenträgern unzugänglich oder durch Maschinen zerlegt und als synthetische Bilder immer wieder neu zusammengesetzt – und uns so unser kollektives Bildgedächtnis genommen.

Roland Barthes wurde in Paris von einem Milchwagen angefahren und erlag etwa einen Monat später, am 26. März 1980, im Alter von 64 Jahren seinen Verletzungen.

Dino Mari



Buchempfehlungen dazu:

Roland Barthes, Die helle Kammer
WJT Mitchel, Das Leben der Bilder

F.C. Gundlach. Das fotografische Werk
Nadav Kander, The Meeting

Wer Amazon oder Partnerlinks nicht mag, mein sehr empfohlener Fotobuchshop, ganz frei von jedweder Provision: https://www.artbooksonline.eu/

 
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