Das Kunstwerk im Zeitalter seiner synthetischen Reproduzierbarkeit

Es gibt eine weitverbreitete und somit offizielle Haltung zur rasch fortschreitenden Entwicklung lernender Maschinen. Es wird im Wesentlichen beruhigt, es gäbe kein wirkliches Problem, da diese Maschinen niemals menschliche Interaktionen vollständig glaubhaft abbilden können und folglich auch nicht in der Lage sein werden, in bisher von der Automatisierung verschonten Bereichen in großem Umfang den Faktor Mensch zu ersetzen. Der individuelle menschliche Genius setze sich letztlich immer durch, da Maschinen – unter anderem - weder Intuition noch eine eigene Körperlichkeit haben. Ich sehe das differenzierter: Der Mensch ist weder gut noch fleißig oder überdurchschnittlich begabt. Daher tendieren schon aus Gründen der Effizienz dazu, uns mit Lust dem Mittelmaß hinzugeben - und eben dieses wird bereits heute von auf AI/ML basierenden Programmen mit sprichwörtlich lässiger Eleganz perfekt abgebildet.

 

Die Erfindung der Dampfmaschine durch James Watt hat nicht nur den Faktor Arbeit sprichwörtlich neu bewertet, sondern auch zu einer wirtschaftlichen Expansion ungeheuren Ausmaßes geführt, die wiederum den fürstlichen Merkantilismus ablöste und über den modernen Kapitalismus des Adam Smith[1] die Neuzeit bis heute entscheidend prägt. Die Dampfmaschine existierte bereits mehrere Jahrzehnte vor der entscheidenden Erfindung von Watt, nur hatte sie als nicht geschlossenes, atmosphärisches System bei weitem nicht die Leistungsfähigkeit und somit disruptive Kraft der Maschine nach Watt.

 

Die Kraft der im Zeitalter der Aufklärung erfundenen Maschinen beförderte die Menschheit in die Moderne, auf deren wirtschaftlichem Fundament allen sozialen Spannungen[2] zum Trotz auch der noch heute vorhandene Wohlstand ruht. Anstelle ausbeuterisch[3] wirkten die Maschinen verstärkend und ermöglichten eine produktive Effizienz, die ganz neue Phänomene schuf, wie beispielsweise das der regelmäßigen freien Zeit. In diese von den Maschinen angestoßene Zeit des schnellen Wandels und der Transformation fielen auch die bis heute bedeutenden grundlegenden Erfindungen dieser Zeit, eine davon die Fotografie.

 

Der Kunstkritiker Jules Janin (1804 – 1874) [4] war der erste, der über die neuartige Daguerreotypie berichtete. Zum einen schrieb er der Erfindung der Fotografie einen höheren Stellenwert als jener der Dampfmaschine zu, zum anderen gibt es durchaus Parallelen zwischen der zeitgenössischen Begeisterung für die Daguerreotypie und der aktuellen Entwicklung der künstlichen Intelligenz. Die Fotografie hatte für Janin eine religiöse Kraft, anstelle des göttlichen „Es werde Licht“ trat nun die Möglichkeit, den Türmen von Notre-Dame zu befehlen, Bild zu werden[5]  – die Fotografie als Annäherung an die Schöpfung Gottes.

 

Die Erfindung der Fotografie hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf die Malerei, insbesondere auf die Porträtmalerei. Vor der Fotografie war die Porträtmalerei eine der Hauptaufgaben für Künstler, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Ankunft der Fotografie führte zu einem Wettbewerb zwischen der traditionellen Malerei und der Fotografie, da diese eine schnellere, billigere und präzisere Methode zur Erstellung von Porträts bot. Dies zwang Porträtmaler, ihre Techniken zu überdenken und neue Wege zu finden, um ihre Werke interessant und einzigartig zu gestalten – oder sich ihrerseits der Fotografie zuzuwenden. Wem dies nicht gelang, stand oft genug vor den Scherben seiner wirtschaftlichen Existenz.

 

Auch führte die Fotografie zu einer Abkehr von der reinen Abbildung der Realität in der Malerei und Skulptur. Künstler begannen, sich auf den emotionalen und symbolischen Gehalt ihrer Werke zu konzentrieren, was zu Stilrichtungen wie dem Impressionismus, Expressionismus und später der abstrakten Kunst führte.

 

Die neuartige Fähigkeit der Fotografie, präzise und detaillierte Abbildungen von Objekten, Personen und Szenen festzuhalten, entlastete die Maler von der Aufgabe, realistische Darstellungen zu schaffen. Dies führte zu den vorgenannten künstlerischen Bewegungen, die sich auf verschiedene Aspekte des Ausdrucks konzentrierten. Zum Beispiel legte der Impressionismus den Schwerpunkt auf Licht und Farbe und die Wirkung, die sie auf die Wahrnehmung der Realität haben. Der Expressionismus betonte Emotionen und innere Erfahrungen und verwendete oft stark verzerrte und abstrakte Darstellungen.

 

Tatsächlich hat die Fotografie sich mittlerweile nicht nur in der Kunst etabliert, auch hat sie einen wichtigen Beitrag zur journalistischen Wahrheit und künstlerischen Schönheit geleistet. Wie auch die Maschinen von Erfindern wie Watt – oder später Daimler, Diesel, Maybach oder Otto – hat die Fotografie die uns gegebenen Möglichkeiten stets in jeder Beziehung erweitert.

 

Bei einem Vergleich der enthusiastischen wie auch gleichzeitig beschwichtigenden Äußerungen zu Angeboten wie ChatGPT oder Midjourney zeigen sich erneut deutliche Parallelen zu den zeitgenössischen Bewertungen der Dampfkraft oder der Fotografie. Die trainierte Intelligenz eignet sich hervorragend, um die Produktivität und kreative Effizienz zu steigern. Ähnlich wie die Fotografie den Maler von der Notwendigkeit des Realismus befreite, werden die neuen Maschinen repetitive Aufgaben übernehmen und somit für mehr Freizeit sorgen. Zwar hat die neue – und sich rasch weiterentwickelnde – Technologie durchaus eine disruptive Kraft, keinesfalls jedoch wird diese den Menschen ersetzen können.

 

Doch warum eigentlich nicht? Woher kommt diese Sicherheit, dieses mantraartig wiederholte Vertrauen in den überlegenen schöpferischen Genius des Menschen? Im täglichen Umgang miteinander überwiegt jedenfalls das Erlernte, das Formelhafte, das Mittelmaß. ChatGPT-3 erreichte in Anwaltsprüfungen in den USA ein Ergebnis am unteren Ende der Skala, während das aktuelle Modell GPT-4 hingegen bereits einen beachtlichen Abschluss in den oberen zehn Prozent der Teilnehmer erzielt[6][7] – und dies in nur wenigen Monaten Entwicklungszeit. GPT-4 ist bereits in der Lage, Bilder zu erkennen und aus groben Scribbles Webseiten zu entwickeln.

 

Insbesondere in den sogenannten sozialen Medien manifestiert sich oft eine gewisse Formelhaftigkeit in der Kreativität, bei der die Wiederholung des bereits Bekannten dominiert. Diese Tendenz zeigt sich in der Attraktivität von Bildern und visuellen Inhalten, die auf vertrauten Mustern und Ästhetiken basieren. Das zugehörige Belohnungssystem – Likes und Follower – stimuliert die Wiederholung von bewährten Inhalten und visuellen Stilen, da diese Erfolg versprechen.

 

Durch das Erlernen dieser weit verbreiteten Muster und Ästhetiken können KI-gestützte Systeme in Zukunft dazu beitragen, den Status quo zu perpetuieren, indem sie Inhalte erstellen, die stets den etablierten Formen entsprechen. Schon jetzt werden künstlich erzeugte Bilder sowohl als real als auch als schön wahrgenommen. Es ist darüber hinaus zu erwarten, dass stetig besser trainierte KI aus dem unerschöpflichen Pool des Gewöhnlichen künstlerisch disruptives und ungewöhnliches erschaffen wird. Neben dem Problem der Autorenschaft wird sich auch die jahrhundertealte Frage, ob beispielsweise Fotografie Kunst oder Handwerk ist, für die Ergebnisse der KI erneut stellen.

 

Die Dampfmaschine stürzte die Weber Schlesiens in Armut und Aufruhr, die Fotografie brachte Porträtmaler zu Fall, und die erste Welle der digitalen Revolution ersetzte viele Berufe, einschließlich der damals noch jungen Branche des Fotosatzes. Die anfangs bestenfalls mittelmäßigen grafischen Möglichkeiten eines DTP-Bürorechners (Desk-Top-Publishing, damals ein Buzz-Word) wurden schnell zum Schicksal einer gerade erst vom Bleisatz migrierten Berufsgruppe. Obwohl die typografische Qualität der frühen DTP-Programme (u.a. Adobe PageMaker, Quark X-Press, CorelDRAW) mitunter eine optische Zumutung war, ließ der Kostenvorteil ästhetische Bedenken rasch in den Hintergrund treten. Die Lithographen, die damals noch amüsiert das Schicksal der Lichtsetzer verfolgten, glaubten, ihre umfangreiche Fachkenntnis könne von keinem Computer erreicht werden – ein Irrtum, wie sich ebenso schnell wie fatal herausstellte.

 

Doch im Gegensatz zu früheren Zeiten könnte der Wandel hin zu einer KI-gestützten Umgebung einen Wandel zur Nutzlosigkeit menschlicher Tätigkeit bedeuten. Eine KI, die ständig aus der von uns bevorzugten Einfachheit und Höflichkeit gespeisten Mittelmäßigkeit lernt, kann fast jede Aufgabe übernehmen, die wir bis vor kurzem noch für den Menschen reserviert glaubten. In der Fotografie sind schon länger Veränderungen in bestimmten spezialisierten Bereichen zu beobachten, wie beispielsweise der Produktfotografie. Mit der Weiterentwicklung von KI-gestützten Systemen ist es jedoch schwierig, sich diese zunächst sehr nützlichen Helfer aus einer fortschreitenden Entwicklung herauszudenken – deren Ende ein nur schwer abschätzbares Ergebnis birgt.

 

Wir sind Menschen und das Ergebnis des trainierten Mittelmaßes. Zu Janins Zeiten entstand aus dem Gedanken das Bild der Kathedrale von Notre-Dame, heute entsteht aus einem Gedanken ein synthetisches Bild oder eine vollständige und doch erkenntnisfreie Semesterarbeit. Die Maschine wird uns entweder zu permanenter Brillanz verhelfen oder uns letztendlich nutzlos werden lassen, als Chauffeur eines autonomen Autos.

 

Wir leben in sprichwörtlich interessanten Zeiten.

 

P.S.: Bob[8] sagt folgendes dazu, und es klingt alarmierend beschwichtigend:

„Tatsächlich leben wir in sprichwörtlich interessanten Zeiten, in denen die Zukunft und der Einfluss von KI auf unser Leben und unsere Arbeit noch ungewiss sind. Es liegt an uns, die Möglichkeiten der Technologie verantwortungsbewusst und weitsichtig zu nutzen, um das Beste aus dieser Entwicklung zu ziehen und menschliches Potenzial weiterhin zu fördern und zu schätzen.“

 
Aus meinem Bücherschrank:
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"Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" von Walter Benjamin - https://amzn.to/3yMqagE

 Anmerkung zum Titel:
"Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" ist ein einflussreicher Essay des deutschen Kulturkritikers und Philosophen Walter Benjamin, der erstmals 1935 veröffentlicht wurde. In diesem Essay untersucht Benjamin die Auswirkungen der modernen Technologien, insbesondere der Fotografie und des Films, auf die Kunst und ihre Wahrnehmung in der Gesellschaft.

Benjamin argumentiert, dass die technische Reproduzierbarkeit eines Kunstwerks seine traditionelle Aura, also seine Einzigartigkeit und Authentizität, zerstört. Die massenhafte Reproduktion von Kunst verändert die Art und Weise, wie Menschen Kunstwerke wahrnehmen und erleben, und führt dazu, dass der Betrachter sich stärker auf die politischen und sozialen Kontexte des Kunstwerks konzentriert, anstatt auf seine Aura.

Die technische Reproduktion der Kunst hat demzufolge das Potenzial , den Zugang zu kulturellen Werken zu demokratisieren und sie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen (so diese denn tatsächlich gwünscht ist). Allerdings warnt er auch vor der möglichen Vereinnahmung der Kunst durch politische Systeme, insbesondere durch den Faschismus, der die Kunst für propagandistische Zwecke instrumentalisiert. Vor allem für letzteres ist auch eine KI anfällig, zumal wir schnell dazu tendieren die gebotenen Informationen und Handlungen absolut zu vertrauen - vgl. den Auto-Piloten im Luftverkehr.

[1] Adam Smith - https://amzn.to/3Fp61kd

[2] U.a. Gerhard Hauptmann, „Die Weber“ - https://amzn.to/3JQ2oGZ

[3] Karl Marx - https://amzn.to/3LpLRuy

[4] Jules Janin (1804-1874) war ein französischer Schriftsteller und Literaturkritiker. Er wurde in Saint-Étienne, Frankreich, geboren und studierte Rechtswissenschaften, bevor er sich der Literatur widmete. Janin erlangte als Journalist und Schriftsteller Anerkennung und war für seine scharfen Kritiken bekannt. Sein bekanntestes Werk ist wohl der Roman "L'Âne mort et la femme guillotinée" (Der tote Esel und die guillotinierte Frau), der 1829 veröffentlicht wurde. Jules Janin schrieb auch Theaterstücke, Erzählungen und Biografien.

[5] Originalzitat: „Jetzt kann man den Türmen von Notre-Dame befehlen: Werdet Bild! – und die Türme gehorchen (Janin, Jules. "La daguerréotypomanie." Le Journal des débats, 16 Januar 1839, S. 1-2.).

[6] Welt.de – Laurin Meyer: Das kann die neue Version von ChatGPT - https://www.welt.de/wirtschaft/article244300421/ChatGPT-Kochen-Nachhilfe-Steuern-das-kann-die-neue-Version-der-KI.html?source=puerto-reco-2_ABC-V21.3.B_SSO

[8] Bob = John of Us✝ = GPT4

✝ "QualityLand" von Marc-Uwe Kling.

 
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