Der Krieg in der Ego-Perspektive

Über die „Magnificent Eleven“ von Robert Capa.

Originaltitel: “DER GROSSE BRITISCHE VORMARSCH IM WESTEN. Ein Stoßtrupp wartet auf das Signal zum Angriff.” - John Warwick Brooke, ca. 1917, National Library of Scotland.

Die Pioniere verlassen - schwer bepackt - das Landungsboot. Die Perforation ist teilweise sichtbar, die von Capa verwendete Contax und der Kodak 35 mm Film passen nicht exakt zueinander. Originaltitel: “American soldiers landing on Omaha Beach, D-Day, Normandy, France”, Robert Capa, Magnum.

Mit der Fotografie ist das so eine Sache: Ihre Macht liegt oft in ihrer Fähigkeit, den Betrachter mitten ins Geschehen zu katapultieren, ob er nun will oder nicht. Eine gute Fotografie überwindet räumliche und zeitliche Distanz, lässt miterleben, fühlen und nachvollziehen. Am 6. Juni jährte sich die Landung der Alliierten in der Normandie zum 79. Mal – einer der letzten großen Wendepunkte des 2. Weltkrieges. Es jährte sich somit auch die Geschichte der elf Fotografien von Robert Capa, die später als die „Magnificent Eleven“ bekannt wurden.

Originaltitel: “American soldiers landing on Omaha Beach, D-Day, Normandy, France”, oft auch als “Man in the Surf”, Robert Capa, 6.6.44, Magnum

Am 6. Juni 1944, dem ersten Tag der D-Day-Landungen, war Capa einer der Fotografen, die den Beginn der Invasion der Alliierten in der Normandie dokumentierten. Mit seiner Kamera begleitete er die Soldaten einer der ersten Wellen an einem stark umkämpften Abschnitt von Omaha Beach; er selbst stand unter ständigem Beschuss und befand sich unmittelbar inmitten von Chaos und Tod. Capa machte mehrere Bilder, doch ein Laborfehler zerstörte fast alle seine Negative. Nur elf Bilder konnten gerettet werden, elf Fotografien, die später als "The Magnificent Eleven" bekannt wurden.

Trotz – oder gerade wegen - der technischen Mängel sind die Bilder unglaublich eindringlich. Die Unschärfe und die Körnigkeit der Bilder, die – so die Geschichte - durch den Laborfehler verursacht wurden, verleihen den Fotos eine fast traumähnliche Qualität und betonen das Chaos und die Rohheit des Krieges. Einige dieser Bilder wurden zu den bekanntesten Bildern des Zweiten Weltkriegs und sind ein wertvolles Zeugnis jener dramatischen Momente, in denen das freie Westeuropa an manchen Stellen in der Normandie nur aus wenigen Metern Strand bestand.

Gut sichtbar der Halbkreis auf dem Helm des Soldaten ganz links, das taktische Zeichen der Pioniere. Originaltitel: “American soldiers landing on Omaha Beach, D-Day, Normandy, France”, Robert Capa, 6.6.44, Magnum.

Über diese elf Fotografien selbst ist in den fast acht Jahrzehnten sicherlich genug geschrieben worden, vermutlich auch wieder in diesen Tagen. Mittlerweile gibt es in den dargestellten Details und Fakten sehr glaubwürdige Abhandlungen darüber, dass Capa an diesem Morgen tatsächlich nur diese elf Aufnahmen belichtet hat – und nicht, wie gemeinhin überliefert, mehrere Rollen Film. Die wenigen vorhandenen Fotografien zeigen offenbar Soldaten eines Pionierkommandos am Strand bei Colleville-sur-Mer, die noch unter dem Feuer der deutschen Verteidiger die Anlandungshindernisse räumen. Anders als die eigentlichen Sturmtruppen verblieben die Pioniere an diesem Vormittag schutzlos an der Wasserlinie, um die Anlandung größerer Landungsschiffe zu ermöglichen, und erlitten entsetzliche Verluste.

Omaha-Beach, Filmszene aus “Saving Private Ryan”, USA 1998.

Folgt man der neueren Forschung, dann war Capa selbst nur wenige Minuten am Strand von Omaha Beach. Eine der wenigen Fotografien zeigt geisterhaft im Hintergrund das Landungsschiff, das er kurz darauf nutzte, um zunächst zur Landungsflotte und am Tag darauf nach England zurückzukehren. Ob diese Rückkehr den Geschehnissen am Strand geschuldet war oder dem Willen, der Erste zu sein, der Bilder von der Invasion liefert, vermag ich nicht zu beurteilen. Von den fünf großen Landungszonen am 6. Juni war Omaha der blutigste Ort, und es stand bis weit in den Tag hinein zu befürchten, dass die Landung dort scheitern könnte. Es ist daher absolut nachvollziehbar, dass Capa nur das absolute Minimum an Zeit dort verbringen wollte. Die Geschichte vom nervösen Laboranten, der in London das vollständige Material bis auf diese elf Aufnahmen im Trockenschrank sprichwörtlich verschmorte, kann genauso zwecks Verschleierung und möglicherweise auch der Glorifizierung der vorhandenen Aufnahmen schlicht erfunden worden sein.

Dessen ungeachtet sind – und bleiben – die wenigen Fotografien Capas bedeutende und bewegende Zeitdokumente. Seine Bilder waren tatsächlich die ersten, die publiziert werden würden und haben bis heute ihre prägende Wirkung nicht verloren, zum einen über die beinahe schon natürliche Auswahl Capas Bilder in beinahe jeder Dokumentation zur Landung in der Normandie und zum anderen ob ihrer Unschärfe, die eine Ungewissheit transportiert, die sich leicht im Geiste mit den Ereignissen in Frankreich verbinden lässt. Die Perspektive des Fotografen unter Feuer überträgt sich unmittelbar auf den Betrachter, und so ist es nur natürlich das Spielberg Elemente dieser Fotografien in die Eröffnungssequenz von „Saving Private Ryan“ einfließen ließ.

Der Schritt vom reinen Abbilden zum Nachvollziehbarmachen, vom bloßen zeitgeschichtlichen Dokument zur immersiven Fotografie, vollzog sich tatsächlich schon früher, namentlich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Mobilere Aufnahmetechnik in Verbindung mit einer Reihe von Konflikten, die sich zum Ersten Weltkrieg aufschaukelten, brachte Möglichkeit mit Notwendigkeit zusammen.

Capt. John Warwick Brooke, ca. 1917, Fotograf unbekannt.

Und ebenso wie sich der Krieg in der Urkatastrophe des vergangenen Jahrhunderts von seinem linearen napoleonischen Erbe befreien musste, entledigte sich die Fotografie des statischen Ballasts ihrer Erfinder und wechselte gleichzeitig die Perspektive. Aus dem den Geschehnissen entrückten Betrachter wurde ein ebenso gleichberechtigter wie auch gefährdeter Teilnehmer. Einer dieser frühen Frontfotografen des ersten Weltkrieges war John Warwick Brooke. Er wurde 1915 zum offiziellen Fotografen des britischen Kriegsministeriums ernannt, ein Amt, das er bis zum Kriegsende innehatte. Er war einer von nur fünf offiziellen britischen Kriegsfotografen während des Ersten Weltkriegs.

Zusammen mit seinen Kollegen dokumentierte Brooke das Leben und den Tod in den Schützengräben an der Westfront. Er ist für einige der bekanntesten Fotografien des Ersten Weltkrieges verantwortlich, darunter die Aufnahme der „Stretcher-Bearers“ („Kranken- bzw Tragenträger“) aus dem Jahr 1917, die den Rücktransport eines Verwundeten in hüfthohem Schlamm zeigen. Diese Aufnahme wird der Schlacht bei Passchendaele zugeordnet und bleibt dem Geschehen gegenüber distanziert.

„Infanteristen kauern in einem sehr engen Schützengraben. Ihre Anspannung ist deutlich in der gespannten Haltung ihrer Körper und im Gesicht des jungen Soldaten, der zur Kamera zurückblickt, zu erkennen. Der Graben ist recht flach; würden die Männer aufrecht stehen, wären ihre Köpfe über dem aufgeschütteten Erdwall sichtbar. (Originaltext: 'DER GROSSE BRITISCHE VORMARSCH IM WESTEN. Ein Stoßtrupp wartet auf das Signal zum Angriff.) - John Warwick Brooke, ca. 1917, National Library of Scotland (auch Text).

Eine andere Szene, die als Bildserie mit fünf Fotografien erhalten geblieben ist, wird oft - und wohl fälschlicherweise - dem Debakel an der Somme 1916 zugeschrieben, ist aber vermutlich mindestens ein Jahr später entstanden. Sie zeigt einen kleinen Trupp Infanteristen, die aus einem Graben heraus zum Angriff antreten. Durch den Betrachtungswinkel wird der Fotograf - und somit der Betrachter - zu einem Teil der Szene, zum zwölften Soldaten, der schon bald den Schutz des Grabens verlassen muss. Diese Perspektive lässt uns nicht nur zuschauen, sondern Teil des Geschehens werden, ein Zeugnis für Brookes bemerkenswertes Talent, das Publikum in die Mitte des Geschehens zu ziehen und möglicherweise einige der ersten – nicht gestellten – immersiven Fotografien des 1. Weltkrieges. Diese Fotografien sind beinahe 30 Jahre vor den Aufnahmen Capas entstanden, sind aber in ihrem Wesen und in der Spannung, die sie vermitteln sehr ähnlich.

Robert Capa, vermutlich am 7.6.1944 während der Rückfahrt nach England. Fotograf unbekannt.

Nach dem Krieg kehrte Brooke zu seiner kommerziellen Arbeit zurück und starb am 21. Juni 1929. Sein umfangreiches Archiv an Kriegsfotografien ist eine unschätzbare historische Ressource und eine starke Erinnerung an die Realitäten des Krieges.

Der Erste Weltkrieg veränderte nicht nur eine ganze Generation für immer, er leitete auch die Ära der journalistischen Fotografie ein und revolutionierte damit das moderne Nachrichtenwesen - zunächst in den großen Illustrierten Europas, insbesondere jedoch Berlins. Mit der Zeit und Auflage wuchsen die Erwartungen von Redakteuren und Lesern an die Kriegsberichterstatter. Sie verlangten Fotografien, die das unmittelbare Geschehen widerspiegeln, und im Idealfall jenen entscheidenden Moment festhalten, der Geschichte schreibt.

Don McCullin in Hue, Februar 1968. c Nik Wheeler

In dieser neu definierten Ära der journalistischen Fotografie, erhebt sich die Gestalt Robert Capas auf bemerkenswerte Weise. Geflüchtet vor der Judenverfolgung der Nationalsozialisten, liefert Capa während des spanischen Bürgerkriegs eine seiner bekanntesten, zugleich aber auch umstrittenen Aufnahmen: das Foto eines sterbenden republikanischen Soldaten. Dieses Bild liefert exakt das, was die Redaktionen der damaligen Zeit fordern – der Fotograf als unerschrockener Abenteurer, sei es an der Front, auf dem Rücken eines Zeppelins wie Eisenstein oder im freien Fall beim Fallschirmsprung, so wie Ruge. Unterhaltungswert und politische Einstellung werden dabei oft über den Wahrheitsgehalt gestellt. Die Fotografie erscheint in ihrer bloßen Existenz als "wahrhaftig".

In Spanien stirbt seine Freundin Gerda Taro, die genau wie er als Fotografin den Bürgerkrieg dokumentierte. Er begleitet den Vormarsch der Alliierten nach Deutschland und verbringt eine kurze Zeit in Berlin. Mitte der fünfziger Jahre kommt er während seiner Arbeit für Magnum, eine von ihm mitgegründete Bildagentur, in Indochina ums Leben. Dies geschieht in einem sowohl militärischen als auch journalistischen Vorspiel zu dem, was wohl als Blütezeit des unabhängigen Kriegsjournalismus betrachtet werden kann: dem Konflikt zwischen Nord- und Südvietnam. Agenturfotografen begleiteten die Soldaten des Südens im ersten Wohnzimmerkonflikt der Geschichte, einige blieben freiwillig bei „ihren“ Einheiten während längerer Gefechte. Ein Beispiel hierfür wäre beispielsweise Don McCullin während der Kämpfe um Hue im Jahr 1968. Diese Nähe zum Konflikt bezahlten über 60 Journalisten in diesem Konflikt mit ihrem Leben; ebenso sollte diese Uneingeschränktheit der Berichterstattung in der Folge nicht mehr erreicht werden. In den jugoslawischen Nachfolgekriegen wurden Journalisten gezielt getötet, was die Berichterstattung entsprechend reduzierte und so auch die furchtbaren Gräuel dieser Zeit ermöglichte.

Die fotografische Serie der 12 Soldaten Brookes aus dem Ersten Weltkrieg zeigt einen Zug Infanteristen, die den Graben einzeln verlassen. Sie vermittelt also eine andere Realität als den heute medial dominierenden massenhaften suizidalen Sturmlauf schwer bepackter Soldaten ins gegnerische Maschinengewehrfeuer. Ebenso lassen sich die Fotografien Capas aus der Normandie neu lesen - und vielleicht auch besser, richtiger verstehen - wenn man sich von dem Gedanken löst, eine der ersten Wellen auf Omaha Beach zu sehen. Steven Spielberg ließ sich noch von der ursprünglichen Interpretation der Fotografien Capas leiten, die scheinbar unbewaffnete und hilflos hinter den Landehindernissen Schutz suchende Soldaten zeigen. Tatsächlich sehen wir jedoch auf diesen wenigen Zeitdokumenten Pioniere, die mit Material schwer bepackt an den Strand gehen und unmittelbar mit der Räumung der Hindernisse beginnen, inmitten des Chaos und des steigenden Wasserspiegels.

Omaha-Beach, Filmszene aus “Der längste Tag”, USA 1962.

Für mich waren diese Fotografien der erste Kontakt mit den Themen Geschichte und Fotografie. Es hat mich zu beiden gebracht, eine Entscheidung, die ich bis heute nicht bereue.

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Polen, 1941. Israel, 2023.

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