Polen, 1941. Israel, 2023.

Lemberg, Juli 1941. Fotograf unbekannt, Public Domain.


Vor einiger Zeit hatte ich mich intensiv mit den Bildern des Pogroms in Lwiw (damals polnisch: Lwów, deutsch: Lemberg) auseinandergesetzt. Es war eine menschenverachtende und zutiefst abscheuliche Gräueltat in drei Akten, verübt von ebenso vielen Tätergruppen. Von diesem Pogrom sind Fotografien erhalten; wer diese einmal gesehen hat, kann sie nicht mehr ungesehen machen. Was nach dem Studium der Ereignisse und der überlieferten Fotografien bleibt, ist stets nur die vage Hoffnung, dass sich etwas Vergleichbares in Zukunft nicht wiederholen möge, oder sich zumindest nicht genau so wiederholen würde, oder dass den Überfallenen wenigstens schnelle Hilfe und Unterstützung zuteil werden würde.

Ich habe mich so sehr geirrt. Vollumfänglich, in allen vorgenannten Punkten. Man sagt mir mitunter nach, ich sei bisweilen ein zum Zynismus neigender Misanthrop; dessen ungeachtet hätte ich mir nicht vorstellen können, binnen weniger Wochen mit exakt den gleichen Bildern im Hier und Jetzt konfrontiert zu werden.

Die Stadt Lemberg war nach ihrer Gründung im 13. Jahrhundert zunächst ein Teil des Königreichs Polen, bevor sie im 14. Jahrhundert zur Polnisch-Litauischen Union kam. In dieser Zeit entwickelte sie sich zu einem bedeutenden Zentrum für Handel und Handwerk und war geprägt von einer Mischung aus polnischer, jüdischer, armenischer und deutscher Bevölkerung. Mit den Teilungen und dem Untergang Polens Ende des 18. Jahrhunderts fiel Lemberg an die Habsburgermonarchie und wurde zur Hauptstadt des Kronlandes Königreich Galizien und Lodomerien.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Lemberg kurzzeitig Hauptstadt der Westukrainischen Volksrepublik, bevor es nach dem Polnisch-Ukrainischen Krieg und dem Polnisch-Sowjetischen Krieg in der Zwischenkriegszeit wieder zu Polen kam. Diese unübersichtliche und explosive Gemengelage mit unterschiedlichsten Interessengruppen gipfelte im Zweiten Weltkrieg, als Lemberg zunächst 1939 von der Sowjetunion und am Morgen des 30. Juni 1941 von deutschen Truppen besetzt wurde.

Im Zuge des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion acht Tage zuvor starteten ukrainische Nationalisten einen Aufstand gegen die sowjetische Herrschaft; dieser scheiterte jedoch und führte zur Verfolgung und Ermordung zahlreicher politischer Gegner. Unmittelbar vor der Einnahme der Stadt Lemberg durch die rasch nach Osten vordringenden deutschen Truppen wurden etwa 4.000 bis 5.000 NKWD-Gefangene in den Gefängnissen der Stadt gefoltert, missbraucht, misshandelt, verstümmelt und ermordet.

Die Bilder dieser Gräuel wurden in der deutschen Film- und Bildberichterstattung zur Propaganda gegen die Sowjetunion genutzt; in den Wochenschauaufnahmen lässt sich jedoch bereits der zweite Akt der Tragödie von Lemberg erkennen. Gezeigt werden jüdische Bewohner Lembergs, die zur Bergung der in der Sommerhitze bereits verwesten Leichen gezwungen wurden. Gleichzeitig tauchten erste Flugblätter auf, in denen die jüdischen Mitbürger der Unterstützung der sowjetischen Besatzer bezichtigt wurden. In einer aufgeheizten Stimmung wurden so die Opfer eines latent vorhandenen, gewachsenen Judenhasses als vogelfrei markiert und in den folgenden zwei Tagen vom Mob ebenso misshandelt, verstümmelt und ermordet, wie zuvor die Opfer des NKWD (unter denen sich zweifellos auch Juden befanden). Die deutschen Besatzer beschränkten sich zu diesem Zeitpunkt offiziell auf die Rolle eines Stichwortgebers oder des interessierten Zuschauers, die einem Touristen gleich die Ausschreitungen auch fotografisch für das liebe Daheim festhielten.

Erst im sich daran anschließenden letzten Akt sind es die Deutschen selbst, deren nachrückende Einsatzkommandos tausende der überlebenden Juden in den nahegelegenen Wäldern erschossen, dies wohl auch mit mehr als nur der stillschweigenden Zustimmung der lokalen Bevölkerung. Die Plünderungen, Vergewaltigungen und Morde der Tage zuvor hatten sie bereits zu Tätern werden lassen, einer gut organisierten Vernichtung stand nichts mehr im Wege.

Bis zum 3. Juli zogen deutsche Soldaten, begleitet von ukrainischen Nationalisten und Scharen von Einwohnern, durch die Stadt. Sie griffen Juden auf den Straßen an, schlugen und schleiften sie zur „Arbeit“, insbesondere um die Gefängnisse zu säubern, die mit Leichen und Blut übersät waren. Mitglieder der ukrainischen Miliz drangen in jüdische Häuser ein und zerrten die Menschen zur „Reinigungsarbeit“ hinaus. Die meisten Juden wurden in den Gefängnishöfen festgehalten, und die wenigsten verließen diese lebend. Augenzeugen berichteten, dass die Wände des Brygidki-Gefängnisses bis in das zweite Stockwerk mit frischem Blut und menschlichem Gehirn bespritzt waren.

Insbesondere aus der zweiten Phase des Pogroms sind viele Fotografien erhalten geblieben, keine Auftragsarbeiten der Propagandakompanie, sondern privat entstanden als Erinnerung oder für die Lieben daheim. Die Bilder dokumentieren Gewalt gegen schutzlose Zivilpersonen jeden Alters, besonders auffällig ist jedoch die Häufigkeit von sexualisierter Gewalt gegen Frauen. In diesen Fotografien manifestiert sich ein urzeitliches, grauenhaftes Thema des Krieges – das der Frau als Opfer, als Beute. Im groben Korn der Fotografien dieser furchtbaren Momente in Lemberg ist auf einigen Bildern der anklagende Blick der geschundenen Frauen im Rinnstein der Straße, der sich hilfesuchend an den sicher uniformierten Fotografen richtet, erkennbar. Ein Blick, der sich über den Moment hinaus an ein Deutschland wandte, das eben nicht nur das Land des Führers war, sondern auch als selbsternannte Kulturnation auf eine, wenn nicht große, so doch verhältnismäßig lange aufklärerische Tradition zurückblicken und somit selbst in dieser dunkelsten Stunde seinen Soldaten wenigstens einen Rest Menschlichkeit – oder doch wenigstens einen Funken Anstand - hätte lassen sollen.

Was diese Fotografien besonders erschreckend macht, ist das Kollektive der Gewalt, der ganz offensichtlich unterhaltsame Aspekt des Quälens Wehrloser, an dem auch Kinder und Jugendliche mit hohem Engagement und Interesse und Freude teilnahmen. Wehrlose Menschen, darunter eben auffällig oft Frauen, die im Fadenkreuz einer entfesselten Masse stehen, die sie zu Opfern und Beute zugleich macht. Es sind genau diese Bilder, mitunter mit dem gleichen Ausdruck des Leidens in den Gesichtern der Gepeinigten, die seit dem Terrorangriff auf Israel in den sozialen Medien von den Tätern verbreitet wurden – neben den abscheulichsten Formen von Mord und Totschlag. Sie zeigen das zur Schau stellen der erlegten "Beute", die johlende Menge, die spuckenden Kinder.

Es sind die gleichen Bilder. Das gleiche Thema. Und wieder stehen die Opfer allein.

Noa Argamani, 7. Oktober 2023, Gaza (Screenshot, Hamas-Video).

In den visuellen Dokumenten des entmenschlichten Terrors des 7. Oktober manifestiert sich auch ein überwunden geglaubter steinzeitlicher Tribalismus, dessen Taten sich heute nicht mehr schamhaft im Pulverdampf des Krieges verstecken, sondern sich als hasserfüllte Prahlerei in Echtzeit im Internet verbreiten, deren Postings mitunter auch im – eigentlich - aufgeklärten Westen beinahe schon ekstatisch begrüßt wurden. Wie 1941 geilt sich eine selbsternannte intellektuelle Elite an den Bildern gequälter Mitmenschen auf, verbunden mit sorgfältiger moralischer Begründung, warum dies denn alles geschieht und weshalb es insbesondere die Opfer sind, die an ihrem Schicksal eine erhebliche - wenn nicht vollständige - Mitschuld tragen. Wie schon 1933 sind es wieder Studenten, die, so Erich Kästner, 'Blüte der Nation', die damals auf dem Opernplatz Bücher verbrannten und heute jüdischen Studenten den Zugang zur Hochschule verweigern. Ab 1938 lieferten die Hochschulen des Reiches den 'wissenschaftlichen' Unterbau für die sich anschließenden Pogrome, die Deportation und letztendlich die massenhafte Ermordung in den Lagern im Osten.

Auf den Terror in Lemberg 1941 folgte die koordinierte, massenhafte Vernichtung jüdischen Lebens in Europa. Dass sich dies heute nicht wiederholt, liegt nicht an diplomatischen Lippenbekenntnissen, sondern einzig an der Verteidigungsfähigkeit des einzigen demokratischen Staates im Nahen Osten. Dass dieser Staat – der seit seiner Gründung routinemäßig überfallen und bedroht wird – seine demokratische Struktur bis heute erhalten hat, grenzt - und dies nur nebenbei - an ein Wunder.

Die Welt befindet sich offenbar wieder im zweiten Akt einer Tragödie, die bereits einmal aufgeführt wurde. Wieder rollen nach Großkatzen benannte Kampfpanzer mit Balkenkreuz im Osten, und wieder findet sich der Davidstern an den Wohnungen jüdischer Mitmenschen in Berlin. Es liegt an uns, ob wir in Zukunft einer übergriffigen, ideologischen Verblendung nicht im Wege stehen oder den Ideen der Aufklärung den Vorrang geben möchten.

Ich finde wir sollten das letztgenannte Vorziehen. Und uns damit, um es mit Adenauer zu sagen, für die Freiheit zu entscheiden.

Weiterführende Informationen: https://encyclopedia.ushmm.org/content/en/film/pogrom-in-lvov

 
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