August Sanders “Jungbauern”

Mit der Fotografie ist es so eine Sache, wir sehen und bewerten die in ihr enthaltenen Nachrichten aus der Vergangenheit immer wieder neu. So auch August Sanders Fotografie dreier Junger Männer in dunklen Anzügen, drei Jungbauern auf dem Weg zum Tanz.

August Sander, Jungbauern, 1914.
Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – August Sander Archiv, Köln

Das Foto der drei jungen Männer entstand in Dünebusch im Frühjahr 1914, wahrscheinlich an einem Samstag Anfang Mai. Es zeigt eine Gruppe dreier junger Männer in dunklen Anzügen auf dem Weg zum Tanz im Nachbardorf. Der Fotograf – August Sander – kannte die drei Burschen. In den Jahren zuvor hatte Sander begonnen, die vermögende Landbevölkerung des ihm seit Geburt vertrauten Westerwalds zu porträtieren. So auch im Sommer 1911 den Bergmann Daniel Krieger und seine Frau Katharina samt ihrer sechs Kinder. Der älteste Sohn der Familie, Otto Krieger, ist jener links in der Dreiergruppe, mit einer Zigarette an den Lippen und dem Hut verwegen nach hinten geschoben. In der Mitte August Klein, vorneweg sein Vetter Ewald Klein.

Es ist gut möglich, dass der 1876 ebenfalls im Siegerland geborene Sander auf die drei gewartet hat, doch verweist die Bildkomposition auf eine zufällige Begegnung. Es hat den Anschein, als ob es die drei jungen Bergleute – sie alle arbeiten in der nahegelegenen Eisenerzgrube St. Andreas – förmlich aus dem Bild hinaus in Richtung des Vergnügens beim Tanz im benachbarten Halscheid zieht. Anders als für Sander üblich, ergibt sich kein frontaler Bildaufbau. Die Fotografie erhält durch die Anordnung der Gruppe in Relation zur in der unscharfen verschwindenden Umwelt einen flüchtigen Begegnungscharakter. Ebenso deutet alles in Gestus und Haltung der drei auf einen kurzen Blick zurück hin, bevor es weiter in die unzweifelhaft erfreuliche Zukunft geht. August Klein im Zentrum der Gruppe scheint auf eine imaginäre Taschenuhr zu schauen; die Zeit drängt: er, dessen verschlafener Blick so etwas wie selbstbewusste Freundlichkeit ausstrahlt, hat zu diesem Zeitpunkt nur noch weniger als ein Jahr zu leben.

Die Fotografie erscheint 1929 unter dem Titel „Drei Jungbauern“ in Sanders erstem Buch, „Antlitz der Zeit“. Das Buch erweist sich als Erfolg, August Sander wird ein in der Weimarer Republik prominenter Fotograf, der sich auch in progressiven Künstlerszene etabliert. Während des Nationalsozialismus waren seine Arbeit und sein persönliches Leben stark eingeschränkt. Das Buch wurde 1936 beschlagnahmt und die für Nachdrucke notwendigen Druckplatten zerstört. Sanders dokumentarische Fotografie war zu unprätentiös; offenbar fehlten das inszenierte Ideal und das nationale oder völkische Pathos des nationalsozialistischen Zeitgeistes. Erst nach dem Krieg fand Sander zurück in die Öffentlichkeit der jungen Bundesrepublik. 1951 präsentierte er auf der zweiten Photokina eine Retrospektive, Edward Steichen erwarb im Anschluss mehrere seiner Fotografien für das New Yorker Museum of Modern Art. Drei dieser Fotografien wurden darüber hinaus Teil der bedeutenden weltweiten Wanderausstellung „The Family of Man“.

Im Rahmen von „Menschen des 20. Jahrhunderts“, Sanders Hauptwerk – einer fotografischen Kartographie der Deutschen, die erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde, fotografierte er noch häufig ähnliche Gruppen von jungen Bauern. Die späteren Aufnahmen dokumentieren ein stückweit auch den technischen Fortschritt in der Umgebung in Form von Fahrrädern, Übertragungsleitungen oder bereits Mopeds (bspw., „Jungbauern 1926“). Der scheinbar perfekte Moment der Begegnungsaufnahme der drei jungen Männer aus Dünebusch findet sich in diesen Fotografien jedoch nicht mehr. Es scheint, als wäre es das alte Kaiserreich mit seiner ambivalenten Ordnung, das an jenem Frühlingstag im Jahr 1914 aus dem Bild zum Tanz geeilt ist. Nur dass dieser Tanz auf den Feldern der Champagne oder Masurens stattfinden sollte, und der Takt der Kapelle in Stahl schlagen würde.

 Der britische Kunstkritiker, Schriftsteller und Maler John Berger hat ausführlich über das Werk von August Sander geschrieben, insbesondere in seinem Buch "Another Way of Telling". Berger hat besonders die uniformen, dunklen Anzüge der drei Männer kommentiert. Nach seiner Auffassung kennzeichnet die Kleidung die Männer als Teil einer sozialen Klasse und gibt Auskunft über ihre Lebensumstände. Nur wenig später machen sich ebenfalls im Frühjahr 1914 eine andere Gruppe von drei jungen Männern in dunklen Anzügen auf den Weg. Ihr Ziel ist Sarajevo, dort gelingt es Gavrilo Princip am 28. Juni 1914, Sophie Chotek und den Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand, zu erschießen. In der sich anschließenden europäischen Krise verzichten alle Mächte darauf, sich gegen den Krieg zu entscheiden, ein Umstand, der in den folgenden beiden Weltkriegen zu Millionen Opfern führen wird.

Rekruten des IR 69 in Elsenborn, Januar 1915. Otto Krieger in der 2. Reihe, kniend, der dritte von rechts. August Klein in der 3. Reihe, stehend, der fünfte von rechts. Fotograf unbekannt.

Die Logik und die Mechanismen des Krieges machen auch vor den drei Feiernden aus Dünebusch im Siegerland nicht halt. Nach den verlustreichen Schlachten von 1914 erstarrt die Westfront und verwandelt sich in ein blutgefülltes Grabensystem, das von der belgischen Nordseeküste bis in die Schweiz reicht. Otto Krieger und August Klein werden beide zunächst in das 7. Rheinische Infanterieregiment Nr. 69 eingezogen. Ein Foto vom Ende Januar 1915 zeigt die beiden kurz vor ihrer Grundausbildung im verschneiten Elsenborn (heute Belgien). Das Gruppenfoto der Rekruten wird von Unteroffizieren in bereits feldgrauen Uniformen flankiert. Die zukünftigen Frontsoldaten haben sich offenbar mit einer Schneeballschlacht für das Foto aufgewärmt; an einigen sind noch die Schneeballtreffer zu erkennen. Fast im Zentrum des Bildes kniet Otto Krieger, rechts hinter ihm August Klein. Die Schultern beider Männer wirken durch den engen Schnitt ihrer alten dunkelblauen Uniformen, als wären sie wie bei Zinnsoldaten nach hinten gezwungen – mit breiter Brust hat der Soldat des nervösen Reiches für sein Land und Kaiser aufrecht in den Tod zu gehen[1]. Ihr Blick scheint eher skeptisch; der Hurra-Patriotismus des Spätsommers 1914 ist angesichts der endlosen Verlustlisten verklungen.

August Sander, “Der Junge General”, 1915. Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – August Sander Archiv, Köln.

Fast zur gleichen Zeit fotografiert August Sander eine andere Gruppe junger Soldaten. Er hatte um die Jahrhundertwende selbst im Infanterieregiment 69 gedient, das in Friedenszeiten in Trier stationiert war. Dort hatte er auch angefangen, seine Kenntnisse in der Fotografie während seiner Dienstzeit zu vertiefen. Am 27. Januar 1915 jedoch fotografiert er – zur Feier des Kaisergeburtstages – eine ganz andere Gruppe junger Uniformierter: Kinder, die sich in einem Potpourri aus historischen Fantasieuniformen aller Waffengattungen ihrem Souverän als künftige Kämpfer präsentieren. Und anders als bei einigen der Männer im verschneiten Elsenborn, ist diesen Kindern ihr antrainierter Stolz noch nicht ins Wanken gekommen.

Ripont in der Champagne, nach 1918. Unbek. Fotograf.

Otto Krieger und August Klein wurden Ende Januar 1915 nach ihrer Ausbildung dem Reserve-Infanterie-Regiment 28 zugeteilt. Nur wenige Tage später fällt August Klein[2] in der Champagne, Champagne; seine Grabstätte ist heute ungeklärt. Viele der für kurze Zeit so erbittert strategisch wichtigen Orte wurden - genau wie ihre Angreifer oder Verteidiger - bis zur Unkenntlichkeit zermalmt, einige wurden bis heute nicht wieder aufgebaut. Kleine Dörfer wie Ripont, das Anfang 1915 noch hinter den deutschen Linien lag. Dort gab es einen kleinen, hastig ausgehobenen Feldfriedhof, der in den kommenden Jahren ebenso wie Ripont immer wieder aufs Neue zerstampft werden würde. Nach dem Krieg ließ das Interesse an den vor allem den gefallenen Deutschen schnell nach, und die gleichwohl ständig auftauchenden menschlichen Artefakte wurden schnell zur Belastung der Anwohner – das Entsorgen war stets einfacher als eine Meldung an die Behörden. Otto Krieger und auch Ewald Klein jedoch würden den Krieg überleben, beide mehrfach und wohl auch schwer verletzt.

Und doch war all das im Frühsommer 1914 noch nicht geschehen. Die Unbeschwertheit des Moments und die Vorfreude auf den Tanz und all das Gute, das noch zu erwarten ist, sind den Dreien förmlich ins Gesicht geschrieben. Sie sind - wie übrigens ursprünglich auch ihr Fotograf, der während seiner Zeit als Haldenjunge in Herdorf mit der Fotografie in Kontakt kam - Bergleute (Otto Krieger und August Klein arbeiteten unter Tage, ihr Cousin Ewald im Büro der Mine) auf dem Weg zur wohlverdienten Zerstreuung. Dass August Sander das Foto 1929 als "Jungbauern" umwidmete, mag sowohl den zeitlichen Umständen als auch praktischen Erwägungen geschuldet sein; die Bergleute hielten sich oft Vieh oder Land zur Selbstversorgung. Doch verändert dies das Bild, zumindest für mich, da es - sofern man die weiteren Details nicht kennt - eine andere Interpretation erlaubt.

Drei junge Bauern aus dem Westerwald, in zwar getragenen, aber durchaus eleganten Anzügen, auf dem Weg zur Brautschau im Nachbardorf. Sie alle - sofern man die Beschreibung eng auslegt - streben eine finanziell gesicherte Existenz auf ihren Erbhöfen an; das Einzige, was zum Glück vielleicht noch fehlt, ist der passende Partner. Die sich deutlich abzeichnende Kriegsgefahr - im April gab es Militärübungen in der Gegend, und nur wenige Tage später flog waren ein ganzes Geschwader primitiver Militärflugzeuge auf einem Übungsflug nach Frankfurt über den Ort[3] - wäre für die drei vielleicht eine geringere Bedrohung gewesen; mit etwas Glück hätte eine bedeutsame ökonomische Stellung gar eine Befreiung vom Dienst oder wenigstens die Einberufung zum Landsturm bedeuten können.

Doch so waren es drei Bergleute, die in einem der damals wie heute anspruchsvollsten und gefährlichsten Berufe arbeiten und ihre spärliche Freizeit an diesem Abend angenehm verbringen zu gedenken. Sie haben ihre staubigen Arbeitsanzüge gegen ihre feinste Kleidung getauscht, um das Leben zu feiern, und doch ist es der Tanz des Lebens, der auf sie wartet. Die Fotografie von August Sander zeigt die unerschütterliche Lässigkeit der Jugend, die so fest an die eigene Unsterblichkeit glaubt.

Ich bin mir sicher, es war ein großartiger Abend, damals, im Frühsommer 1914 auf jenem dunklen Berg über der Sieg.

 

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[1] Ende des ersten Weltkrieges hatte sich die von Friedrich d. Gr. als Sterbekittel bezeichnete Uniform den Gegebenheiten des modernen Krieges angepasst, die Uniformen wurden lockerer und bequemer gestaltet, um den Soldaten mehr Bewegungsfreiheit zu bieten.

[2] Die deutschen Verlustlisten vom 16. März 1915 führen ihn auf Seite 5294 auf. Die 12. Kompanie des 28. RIR war zwischen dem 4. und 23. Februar 1915 als Teil der 16. Reserve-Infanterie-Division in Kämpfe in der Champagne verwickelt. Daher steht zu vermuten, dass er nur wenige Tage nach seiner Überstellung an die Front gefallen ist. Das genaue Sterbedatum wird in den offiziellen Verlustlisten bei unmittelbar in Kampfhandlungen gefallenen Soldaten nicht aufgeführt. Die offiziellen Stammrollen der preußischen Armee gingen 1945 in Potsdam verloren.

[3] Kurz vorher, am 22.-23. April startet ein vom Elsass kommender, auf dem Steinchen gelandeter Militär-Doppeldecker vor einer großen Menschenmenge zum Weiterflug nach (Köln-)Wahn. (AKB, 24.4.1914). Dies war vielleicht Tagesgespräch.

 
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