"The Americans": Wie Robert Frank die Sprache der Fotografie revolutionierte 

The Americans Robert Frank

In "Über Fotografie" setzt sich Susan Sontag 1977 mit der Bedeutung und dem Einfluss der Fotografie auseinander und widmet sich einer Reihe bedeutender Fotografen, die die Landschaft der visuellen Kunst maßgeblich geprägt haben. Und – um Umkehrschluss - eben weil Sontags essayistische Sammlung auch heute noch ein sehr lesenswertes Standardwerk der Fotografie ist verlieren die dort beschriebenen Fotografen auch zu Beginn des Zeitalters der synthetischen Fotografie nur wenig von ihrer Bedeutung:

 Diane Arbus mit ihrer Fokussierung auf das Abseitige und Randständige, August Sander mit seinem ambitionierten Porträt der deutschen Gesellschaft, Alfred Stieglitz als Pionier der Anerkennung der Fotografie als Kunstform, Paul Strand und seine Neuausrichtung zur Abstraktion, Edward Weston mit seiner Betonung der Form, der die Landschaftsfotografie revolutionierende Ansel Adams, Henri Cartier-Bresson mit seinem entscheidenden Moment, Walker Evans mit seinen einfühlsamen Dokumentationen der Großen Depression und Garry Winogrand, der das amerikanische Leben auf den Straßen einfing – oder eben Robert Franks "The Americans" als ein Meilenstein der fotografischen Erzählung sowie der sozialkritischen Fotografie.

Robert Frank, geboren 1924 in Zürich, wanderte 1947 in die Vereinigten Staaten aus. Obwohl Frank und seine Familie als Juden während des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz in Sicherheit waren, beeinflusste die latente Bedrohung durch den Nationalsozialismus dennoch sein Verständnis von Freiheit und Unterdrückung. Er wandte sich wohl auch der Fotografie zu, um den Beschränkungen seiner Familie und Heimat zu entfliehen. Gemeinsam mit einigen Fotografen und Grafikdesignern bildete er sich weiter, bevor er 1946 sein erstes handgefertigtes Buch mit Fotografien, "40 Fotos", kreierte.

Frank emigrierte 1947 in die Vereinigten Staaten und begann in New York City als Modefotograf für Harper's Bazaar. Unter anderem auf Empfehlung von Walker Evans erhielt Robert Frank 1955 ein Guggenheim-Stipendium. Dies ermöglichte es ihm, quer durch die Vereinigten Staaten zu reisen und alle Schichten der Gesellschaft zu fotografieren. Zu den Städten, die er besuchte, gehörten Detroit und Dearborn in Michigan, Savannah in Georgia, Miami Beach und St. Petersburg in Florida, New Orleans in Louisiana, Houston in Texas, Los Angeles in Kalifornien, Reno in Nevada, Salt Lake City in Utah, Butte in Montana und Chicago in Illinois.

Während dieser Zeit machte er 28.000 Aufnahmen von denen 83 von ihm für die Veröffentlichung in „The Americans“ ausgewählt wurden. Die Fotos zeigen eine subjektive, ungeschönte Sicht auf das Amerika jener Zeit und konzentrieren sich auf die Widersprüche der amerikanischen Nation während des Kalten Krieges. Der Krieg in Korea lag erst wenige Jahre zurück, und im Jahr vor der Veröffentlichung des Buches starb in Vietnam der erste Amerikaner während Kampfhandlungen – der erste Tote des amerikanischen Vietnamkrieges, an dessen Ende eine Zeitenwende im Selbstbild der Vereinigten Staaten stehen sollte.

Robert Franks Abweichung von den zeitgenössischen patriotischen fotografischen Standards erschwerte zunächst die Sicherung eines amerikanischen Verlegers. Das Buch wurde daher als „Les Américains“ erstmals 1958 von Robert Delpire in Paris veröffentlicht, mit Texten von Simone de Beauvoir, Erskine Caldwell, William Faulkner, Henry Miller und John Steinbeck, die der Verlag den Fotografien Franks gegenüberstellte. In den Vereinigten Staaten wurde es schließlich 1959 von Grove Press veröffentlicht, allerdings ohne die Texte, und erhielt anfangs erhebliche Kritik. „Popular Photography“ spottete beispielsweise über seine Bilder als „bedeutungslose Unschärfe, Korn, trübe Belichtungen, schiefe Horizonte und allgemeine Schlampigkeit.“ Obwohl auch der Verkauf zunächst schleppend verlief, half die Tatsache, dass die Einleitung von dem beliebten Jack Kerouac verfasst wurde, das Buch einem größeren Publikum zugänglich zu machen.

Mit der Zeit und durch die Inspiration späterer Künstler oder die Rezension Sontags wurde „The Americans“ zu einem grundlegenden Titel in der amerikanischen Fotografie und Kunstgeschichte und ist das Werk, mit dem Frank am deutlichsten identifiziert wird. Die bekanntesten Fotografien sind wohl „Trolley – New Orleans“, das Passagiere durch die Fenster eines Straßenbahnwagens zeigt, getrennt durch Rassenlinien in einer Zeit der Segregation, das Titelbild ab der zweiten Auflage. Ein anderes bemerkenswertes Bild, „Parade – Hoboken, New Jersey“, fängt die amerikanische Flagge im Vordergrund ein, dahinter die indifferenten Gesichter der Zuschauer einer Parade. Diese und andere Fotografien in dem Band verbinden sich zu einem kohärenten Ganzen, das weit mehr ist als die Summe seiner Teile. Sie laden den Betrachter ein, über die sichtbaren Szenen hinaus zu denken und tiefer liegende gesellschaftliche Strukturen und Stimmungen zu erkennen. Die Gestaltung des Buches ist bewusst zurückgenommen, um den Fokus auf die Bilder und die durch sie vermittelten Geschichten zu legen. Jede Fotografie hat das gleiche Format und füllt stets ausschließlich die rechte Seite des Buches.

Die Kombination aus Franks fotografischem Auge und der schlichten Präsentation schafft ein kraftvolles Narrativ, dass die amerikanische Kultur in ihrer Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit kritisch kommentiert. Diese Form der Fotografie war 1958 in den USA Eisenhowers sowohl revolutionär als auch provokativ, spätestens zwei Jahrzehnte später – zur Zeit des der Erstausgabe von beispielsweise auch Sontags Bemerkungen zur Fotografie – ist diese Form einer kritischen Sichtweise eher die Norm.

In einer Welt, die zunehmend von Polarisierung und Parteilichkeit geprägt ist, erinnert die Arbeit von Robert Frank an eine Zeit, in der es möglich war, kritische Beobachtungen anzustellen, ohne unmittelbar in das Korsett politischer Zugehörigkeit gezwängt zu werden. In der Mitte des 20. Jahrhunderts, als Frank als Schweizer Migrant die Vereinigten Staaten durchquerte, konnte er eine Perspektive einnehmen, die gleichsam von außen kam und doch tief in das soziale Gewebe Amerikas eindrang. Diese Fähigkeit, kritisch zu hinterfragen, ohne dabei Partei ergreifen zu müssen, scheint heute, in der Ära der unglücklichen Verknüpfung von Kritik mit Parteilichkeit, ein beinahe verlorenes Privileg.

Einerseits sehnen wir uns nach der klaren Sicht des Beobachters, der die Welt so wahrnimmt, wie sie ist, andererseits verdammen wir diesen Beobachter, sobald seine Wahrnehmungen nicht in das Narrativ unserer gewählten Seite passen. Franks Arbeit erinnert uns daran, dass wahre Kritik – die Art von Kritik, die Veränderungen anregen kann – eine Distanz erfordert, die heute schwerer denn je zu erreichen ist. Die Tatsache, dass Kritik an einer Seite heute fast zwangsläufig mit dem Vorwurf der Parteilichkeit für die andere Seite einhergeht, legt ein Zeugnis davon ab, wie sehr wir uns von der Möglichkeit entfernt haben, die Welt frei von Voreingenommenheit zu betrachten auch fotografisch zu kommentieren. In dieser zunehmend bipolare geteilten Welt ist die Suche nach Objektivität und Wahrheit selbst zu einem politischen Akt geworden ist, ein Paradoxon, dessen Auflösung wohl schmerzhaft werden muss.

Robert Frank verstarb am 9. September 2019 in Inverness, Nova Scotia.

Buchempfehlungen dazu:
Robert Frank - The Americans -
https://amzn.to/3SuThP1

Susan Sontag, On Photography – https://amzn.to/421a28T

Ebenso empfehlenswert als Hörbuch:
Susan Sontag, On Photography, Hörbuch, englisch -
https://amzn.to/3O321u6

Wer Amazon oder Partnerlinks nicht mag, mein sehr empfohlener Fotobuchshop, ganz frei von jedweder Provision:
https://www.artbooksonline.eu/

 
Zurück
Zurück

Fotografie verstehen mit Roland Barthes

Weiter
Weiter

Bilder des Bösen – Böse Bilder 3