Gesichter der Verantwortung – Karsh, der Genozid, die Macht und das Vergessen

Manchmal braucht es kein Wort, um Geschichte zu erzählen. Ein Blick, ein Schatten, eine Hand auf einem Tisch – all das kann genügen, um zu begreifen, was geschehen ist und was nie wieder geschehen darf. Die Fotografie Yousuf Karshs hat dieses Verstummen zum Prinzip gemacht: Sie zeigt Gesichter, die mehr sagen, als Sprache es könnte. Gesichter der Macht, der Schuld, der Verantwortung. Wer hinschaut, erkennt in ihnen nicht nur Porträts einzelner Menschen, sondern auch Umrisse des Jahrhunderts, das sie geprägt hat – und das sie selbst prägten.

Yousuf Karsh, 1958. Fotografiert von Chris Lund.

Yousuf Karsh ist – nach meinem bescheidenen Dafürhalten – möglicherweise der herausragendste Porträtfotograf des 20. Jahrhunderts. Nur wenige verstanden es, die Widersprüche dieses Jahrhunderts in einer tranche de temps zu bannen – einem Porträt, von denen viele heute durchaus ikonisch geworden sind, während der Name des Fotografen mehr und mehr in Vergessenheit gerät. Yousuf Karsh, armenischstämmiger Fotograf und Überlebender des ersten Genozids des Jahrhunderts, wurde zu einem solchen Chronisten: nicht durch große Worte, sondern durch Schatten, durch Licht.

Karshs fotografischer Stil war geprägt von Klarheit, Konzentration und Inszenierung. Er wählte häufig einen engen, intimen Ausschnitt, der nicht nur das Gesicht, sondern auch die Hände seiner Porträtierten betonte – jene Körperteile, die handeln, erschaffen, zerstören. Die Hände waren für Karsh nicht Beiwerk, sondern Ausdruck des Charakters. Seine Lichtführung modellierte Gesichter fast skulptural – mit Kontrasten, die sowohl Stärke als auch Verletzlichkeit sichtbar machten.

Karshs Porträt von Winston Churchill, auch „The roaring Lion“, 30. Dezember 1941, nach seiner Rede „Some Chicken; Some Neck!“ vor dem kanadischen Parlament. Die Fotografie ist seit 2016 Motiv 5 Pfund Banknote.

Als Karsh 1941 Winston Churchill fotografierte, war das Ergebnis keine bloße Abbildung. Es war ein historisches Ereignis – nicht, weil Churchill posierte, sondern weil er es gerade nicht wollte. Karsh, ein junger Fotograf im kanadischen Exil, wagte es, dem Mann der Stunde die Zigarre aus dem Mund zu nehmen. Der Moment der Überraschung, vielleicht sogar des Ärgers oder Zorns, wurde zur Ikone des Überlebenswillens der britischen Nation in höchster Not. Der „Löwe von London“ zeigte Zähne – und wurde dadurch sowohl nahbar als auch ein Zeichen ebenso kaltblütiger wie absoluter Entschlossenheit.

Dabei war Karsh kein neutraler Beobachter. Er konnte es nicht sein, denn seine eigene Geschichte war geprägt vom Völkermord an den Armeniern – jenem „vergessenen Holocaust“, den die Weltöffentlichkeit bis heute nur zögerlich anerkennt. Dabei waren die Verluste an Menschen hochdramatisch: Von drei Armeniern starben zwei. Dem Ziel der Auslöschung eines ganzen Volkes kamen die osmanischen Herrscher im Dunst des Ersten Weltkriegs ähnlich nahe wie später die Nationalsozialisten in Deutschland. Die Flucht aus dem Osmanischen Reich, das Trauma des Verschwindens, das Verstummen ganzer Dörfer – all das hat unzweifelhaft seine Persönlichkeit ebenso geprägt wie seine Bildsprache. Er hatte erleben müssen, was Gewalt mit Menschen macht. Vielleicht hatte er deshalb auch jene freundliche Verbindlichkeit entwickelt, die es ihm ermöglichte, das Markenzeichen Churchills aus dessen Händen zu reißen – und vielleicht suchte er in den Gesichtern der Schönen, der Reichen sowie der Mächtigen nicht nur nach Autorität, sondern nach Gewissensfalten.

Konrad Adenauer wurde zweimal von Yousuf Karsh porträtiert – erstmals am 16. Juni 1955 in Greenwich, Connecticut, ein zweites Mal am 12. Juni 1964. Die erste Sitzung fand während eines Besuchs in den USA, als Adenauer auf dem Höhepunkt seiner politischen Macht stand: außenpolitisch etabliert, im Inneren umstritten, aber unumstritten führend. Karshs Aufnahme zeigt ihn mit gefasster Miene, kantigem Profil, formeller Haltung – ein Kanzler der Disziplin, der Kontrolle, der Durchsetzung. Es ist ein Bild der Verantwortung, aber auch der Unnahbarkeit. Der Schatten über seiner rechten Schulter legt sich wie ein Echo über die unausgesprochenen Jahrzehnte zuvor: die Jahre der Barbarei, der Kollaboration, des Verschweigens.

Konrad Adenauer, 1964, Yousuf Karsh.

In der zweiten Sitzung 1964, kurz nach Adenauers Rücktritt, offenbart sich eine spürbare Veränderung. Der einst unbeugsame Kanzler wirkt gelöst, beinahe privat – mit zum Gesicht geführter Hand, nach innen gewandt, als horche er einer letzten Bilanz in sich selbst. Es ist kein Porträt des Triumphs, sondern eines der Reflexion: Ein Mann, der weiß, dass Geschichte kein abgeschlossenes Projekt ist. Karsh fängt hier nicht nur ein Gesicht ein, sondern ein inneres Nachdenken – jenseits der Macht.

Adenauer war kein Visionär. Aber er war ein Realist mit moralischem Restgewissen. Unter seiner Regierung wurde 1952 das Luxemburger Abkommen unterzeichnet – Deutschlands erste ernsthafte Geste der Wiedergutmachung gegenüber den jüdischen Opfern der Shoah. Man kann darüber streiten, ob es genug war. Aber man kann nicht bestreiten, dass es eine historische Wegmarke war.

Was verbindet also den armenischen Fotografen, den britischen Premier und den deutschen Kanzler? Es ist der Schatten des Genozids – einmal erlebt, einmal bekämpft, einmal verwaltet. Karsh brachte diese Figuren nicht nur ins Licht. Er ermöglicht uns, sie zu sehen im Dialog mit dem, was im Bild nicht zu sehen ist: mit den Toten, mit den Verschwundenen, mit den Fragen, die keine Kamera beantworten kann.

Im Studio, 12. Januar 1945, Fotografie von Eric Schaal.

In einer Zeit, in der Erinnerung zunehmend zur millionenfachen Pose, wenn nicht sogar zur medialen Posse gerät, lohnt der Blick auf Karshs Werk. Seine Porträts sind keine Selbstinszenierungen. Sie sind Zeugnisse ihrer Zeit, vielleicht sogar der Hoffnung: der Hoffnung, dass der Flüchtling eines beinahe vollendeten Völkermords nicht nur sein Leben wiederfinden konnte, sondern dass er sowohl dem Kampf als auch dem Weiterleben mit dem Genozid ein Bild geben würde. Und dass uns so heute jene Gesichter erhalten blieben, die in schwieriger Zeit ihren Teil dazu beigetragen haben, dass sich das Pendel der Macht zum Besseren wandeln konnte.

Yousuf Karsh, geboren am 23. Dezember 1908 in Mardin, Osmanisches Reich (heute Türkei), starb am 13. Juli 2002 in Boston, USA.

Ebenso zu Karsh, aber auch Honecker und Baerbock: Schöner lügen mit Licht: Die Ästhetik des autoritären Bildes.

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