Lastwagen in Bergamo

Über die Macht von Bildern zwischen Fiktion und Realität

Die von Di Terlizzi aufgenommene Szene links, rechts der gleiche Ort bei Tag. C Corriere Della Sera, Bergamo 26. März 2020.

Bis zum 18. März 2020 war Corona eine Krise unter vielen. Meldungen aus China oder aus dem Karneval am Niederrhein – beides schien gleichermaßen fern wie fremd. Eine medial begleitete Bedrohung wie so viele zuvor: Rinderwahnsinn, Vogelgrippe, SARS oder Ebola in Afrika zwischen 2014 und 2016. Doch dann brennen sich die Fotografien einer scheinbar endlosen Kolonne von Militärlastwagen in die private Aufmerksamkeitsökonomie ein. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion rollen sie durch Bergamo. Ihre Ladung, so zunächst Gerüchte, dann die Meldungen: Leichen. Viele Leichen. Zahllose Opfer einer offensichtlich entfesselten Pandemie – denn der Zug der LKW hatte weder Anfang noch Ende, ließ sich nicht quantifizieren.

Wie viele Körper kann ein LKW mit fünf Tonnen Nutzlast transportieren? Dreißig? Vierzig? Fünfzig? Offenbar gab es keinen Platz mehr für Pietät, keinen Raum für Trauer. Der Tod als Aufgabe der Militärlogistik. Wie dramatisch muss die Lage vor Ort dann sein? Wenn von den 100.000 Menschen in Bergamo offenbar in kürzester Zeit Hunderte, wenn nicht Tausende sterben – was bedeutet das dann für mich?

Das Bild, das aus einer abstrakten eine ganz reale Bedrohung machte, entstand offenbar zufällig – aufgenommen vom Balkon des damals 28-jährigen Emanuele Di Terlizzi. Ein neutraler, unbestechlicher Augenzeuge, ein Citizen Reporter, dessen Kamera Licht ins Dunkel dieser Aktion zu bringen schien.

Im bereits aufziehenden Nebel der sich zunächst häufig widersprechenden Corona-Berichterstattung – zwischen schlecht recherchierten Fakten, medialer Hysterie, offizieller Verlautbarung ebenso wie individuellem Entsetzen und echter Angst – kursierten fast gleichzeitig zwei weitere Bilder, die ebenfalls der Pandemie zugeschrieben wurden. Zum einen eine Fotografie der Leichenhalle im Nachgang der Seekatastrophe vor Lampedusa, aufgenommen Jahre zuvor nach einem Schiffsunglück im Mittelmeer am 3. Oktober 2013. Zum anderen ein falsch – oder wenigstens unvollständig – kommentierter Drohnenflug über Hart Island, New York – ein Ort für Armenbestattungen, wo eine übliche anonyme Massenbeerdigung aus der distanzierten Gottesperspektive zum Symbol für Pandemie-Massenbegräbnisse wurde.

Beide Bilder erhielten durch den verschobenen Kontext eine gewaltige emotionale Aufladung – unabhängig von ihrem tatsächlichen Ursprung, ganz gleich, ob schlichte Falschmeldung oder halbwahre Täuschung.

Gespeicherte Ikonen der Angst
Die Lastwagen von Bergamo luden ihre Bedeutung aus den gespeicherten Bildern unseres kollektiven Mediengedächtnisses. Diese stammen aus unserer Geschichte wie aus der Fiktion, der Unterhaltung. Ein sehr passendes – und ob des Erfolgs des Films seinerzeit auch kollektiv abrufbares – Bild stammt aus dem Drama Outbreak (1995). Auch dort fährt das Militär in eine abgeriegelte Stadt ein – Cedar Creek, irgendwo an der US-Westküste, wo nach der Zoonose mit anschließender Mutation eines Ebola-Erregers die Situation rasch außer Kontrolle gerät.

Was im Film dem Einzug des Militärs folgt, ist die dramatische Eskalation zum Ende des zweiten Aktes: Eine junge Mutter wird im Zuge einer strengen Quarantäne von ihrer Familie getrennt. In rascher Folge durchläuft sie alle Phasen der Katastrophe – Evakuierung, Internierung, qualvoller Tod und schließlich anonyme Verbrennung. Parallel dazu zeigt der Film als Exposition die Hochrechnung der potenziellen Opferzahlen in den USA – geschnitten gegen Szenen, in denen Leichensäcke geschlossen, Körper auf LKW verladen und am Ende Hunderte Tote in einer abgelegenen Scheune verbrannt werden.

Filmszene, Beladung von Militär-LKW mit Opfern - Outbreak, 1995. Regie: Wolfgang Petersen, Verleih: Warner Bros. Pictures

Diese Bilder setzen sich fest, sind hochwirksam – nicht nur, weil sie die Urangst bedienen, den Zusammenbruch von Ordnung, die Auflösung von Gesellschaft, sondern auch, weil dieser Zivilisationsbruch ebenso schnell wie unaufhaltsam über die Betroffenen hereinbricht. Am Ende der filmischen Eskalation gibt es keine Hoffnung mehr, alles scheint verloren. Die Fiktion Hollywoods aber wechselt in den dritten Akt des Filmes, der in der ebenso mutigen wie erfolgreichen Konfrontation der Helden mit Virus und Schicksal endet.

In der Realität jedoch wurden die Lastwagen von Bergamo zu einem Menetekel. Wir sind nicht am Anfang einer Katastrophe, wir sind bereits mittendrin. Was nicht oder nur ungenau kommuniziert wurde, ergänzte unser Gehirn automatisch. Wie viele Körper mögen wohl in einem LKW liegen? Die Kolonne war endlos. Es hieß nur: „Viele Tote.“ Aber wie viele genau, blieb offen – unsere aus den Bildern der Vergangenheit gespeiste Fantasie jedoch füllt die Fahrzeuge bis an ihre Kapazitätsgrenze; und es gibt niemanden, der ihr widerspricht.

Wenn Fiktion und Realität sich überlagern
Die Militärlastwagen in Bergamo waren unbestritten real – und wohl auch keine bewusste Inszenierung. Und doch wirkten sie auf eine westliche Öffentlichkeit wie eine Szene aus einem Katastrophenfilm. Die visuelle Grammatik war längst bekannt. Sie stammt nicht nur aus Outbreak, sondern aus zahllosen Kriegs- und Endzeitfilmen: Flucht, Abriegelung, Abtransport, systematisierter Tod.

In diesem Moment übertrug sich eine Bildsprache, die bislang der Fiktion oder der Vergangenheit – Kriegsarchiven, Katastrophendokumentationen – vorbehalten war, in die unmittelbare Gegenwart. Das machte die Bilder aus Bergamo mächtig – nicht, weil sie etwas Furchtbares zeigten, sondern weil wir etwas Furchtbareres aus ihnen herauslasen.

Ikonografie der Katastrophe
Bilder funktionieren nicht isoliert. Sie greifen auf bestehende Bildwelten zu. Eine gelungene, eine wirksame Fotografie erklärt sich immer im Dualismus ihrer selbst: das, was sie zeigt, und das, was wir sehen, mithin auch, was wir sehen wollen – oder sollen.

Der endlose Zug von LKW reiht sich ein in die lange Ikonografie des industrialisierten Todes: Züge der Deportation. Leichentransporte aus Kriegsgebieten. Oder eben – als popkulturelle Referenz – die Quarantänelogistik in Outbreak.

Die Wirkmacht solcher Bilder speist sich aus drei Ebenen: dem, was tatsächlich gezeigt wird – Militärlastwagen, dunkle Straßen, Scheinwerferkegel, endlose Reihen. Daraus lesen wir das Unsichtbare, die unausgesprochene Bedeutung: Was befindet sich in diesen LKW? Wie riecht es dort? Warum fahren sie nachts? Das Bild zeigt nicht alles, aber es suggeriert alles.

Verstärkt – oder, verzeihen Sie mir das Wortspiel, geboostert – wird dies aus dem Erinnerbaren: den gespeicherten Bildern im Kopf des Betrachters – gespeist aus Filmen, Nachrichten, Geschichtsbüchern. Die LKW von Bergamo wirken, weil wir uns daran erinnern, was ähnliche Bilder in anderen Kontexten bedeutet haben.

Das Bild als Schockverstärker
Der Schock von Bergamo war nicht nur ein Schock über die Zahl der Toten, sondern auch darüber, dass die eigenen Schutzmechanismen – materiell wie psychisch – scheinbar nicht mehr griffen. Das Bild sagte: Das hier ist nicht woanders. Nicht in Asien. Nicht in einem Kriegsgebiet. Nicht Science-Fiction. Es ist hier. Es ist jetzt.

Doch auch Schockbilder haben ein Gegenmittel – nämlich Information und Aufklärung. In den Jahrzehnten vor Corona – beginnend mit dem Aufschwung der Massenmedien, der Illustrierten, der Bildberichterstattung Anfang des letzten Jahrhunderts – hätte ein offenkundig derart dramatisches Ereignis mit möglicherweise Tausenden von Opfern die geballte Wirkmacht des Journalismus in das Valli Bergamasche gerufen. Dies blieb jedoch aus.

Screenshot: Tagesschau / WDR 28.05.2020

Die Bilder wurden nicht von den Reporterlegenden der Vergangenheit hinterfragt, ihnen wurden keine anderen Fotografien zur Seite oder möglicherweise entgegengestellt. Stattdessen Journalismus aus der Ferne, der sich eher in Fragen und Spekulationen versteigt, als an Antworten versucht. So berichtet das Nachrichtenmagazin Monitor noch zwei Monate später von „noch mehr Toten“ in Bergamo und von 165 gestorbenen Ärzten – diese Zahl bezieht sich allerdings auf Italien und nicht einmal ausdrücklich auf die Pandemie (1). Und so scheint die unklare und häufig hysterische Nachrichtenlage das Bild hinter dem Bild zu bestätigen – das ob einer virtuellen Nachrichtensperre weder hinterfragt werden kann noch hinterfragt werden soll.(4)

Fiktion als Trainingsraum der Angst
Fiktion war immer ein Raum, in dem Gesellschaften ihre Ängste durchspielen: Krankheit, Krieg, Zusammenbruch. Filme wie Outbreak sind nicht bloß Unterhaltung, sondern kulturelle Probeläufe für das Undenkbare. Speicherorte für Szenarien, die man nicht erleben möchte – und gerade deshalb kollektiv imaginiert.

Als die Pandemie kam, griff das kollektive Gedächtnis automatisch auf diese gespeicherten Bilder zurück. Die Realität wurde durch die Linse der Fiktion betrachtet – und die Fiktion erhielt durch die Realität eine scheinbar schmerzhafte Beglaubigung. Denn selbstverständlich waren die LKW nicht randvoll mit den Körpern Verstorbener gefüllt; es fuhren wohl – in einer bemerkenswert italienischen Mischung aus Pietät und Seuchenschutz – wenige Särge pro Fahrzeug (3).

Warum dieser Transport als Konvoi erfolgte, entzieht sich sowohl meiner Kenntnis als auch meiner Fantasie. Über die tatsächlichen Geschehnisse in Bergamo sind inzwischen (2) – mehr als fünf Jahre später – ebenso umfassende wie schlüssige Abhandlungen geschrieben worden; diese sind nicht Teil dieses Textes. Tatsache ist aber, dass die Realität nur wenig mit der Fiktion in unseren Köpfen zu tun hatte, und dies ganz unabhängig von dem, auch auf menschliche Unzulänglichkeiten zurückzuführenden, Leid in Bergamo.

Macht der Bilder bleibt
Bergamo war der Startschuss zu etwas, was uns vor allem die Ohnmacht des Einzelnen als auch unsere gesellschaftliche Fragilität vor Augen geführt hat. Angst ist ein mächtiger Antrieb, und der schützende Firnis der Zivilisation ist dünn, sehr dünn. Die Fotografie einer LKW-Kolonne in einer Stadt der norditalienischen Provinz zeigt, dass die Trennung zwischen Fiktion und Realität äußerst fragil ist – und dies nicht nur in der Welt der Ikonografie.

„Die Bilder von Bergamo“ sind längst zum Chiffre geworden – oder, weniger freundlich formuliert, zum Wieselwort – wenn es um die ebenso mühsame wie zweifellos notwendige Aufarbeitung der Krise geht. „... die furchtbaren Bilder aus Bergamo ...“ markierten auch in Deutschland die moralische Rechtfertigung für den Durchgriff auf die tägliche Lebensrealität – damals wie heute. Dabei hat es diese Bilder nie gegeben – zumindest nicht jene, wie wir sie heute wie damals gesehen zu haben glauben.

 

(1) Originalzitat Tagesschau:
”Mehr als 150 Ärzte gestorben
… Auch bei Hausarzt Riccardo Munda aus Nembro, der im Februar in die Praxis seines Vorgängers kam, weil dieser krank wurde. 165 Ärzte starben auf dem Höhepunkt des Infektionsgeschehens in Italien. …”
Quelle: Corona-Pandemie: Noch mehr Todesopfer in Norditalien? | tagesschau.de - abgerufen am 29.06.25.

(2) Zur tatsächlichen Situation in Bergamo am 18.03.2020: “In Wahrheit war das Militär nicht etwa eingesetzt worden, weil Berge von Leichen nicht anders hätten transportiert werden können. Die Anzahl der Verstorbenen war damals nicht höher als bei manchen Grippewellen in Italien (Stand April Anfang 2020). Es war die Angst vor dem "Killervirus" genannten Erreger. Um Fakten zu schaffen, beschloss man die sofortige Einäscherung der an COVID Verstorbenen. Normalerweise werden in Italien aber nur die Hälfte aller Verstorbenen eingeäschert. Deshalb reichten die Kapazitäten des Krematoriums in Bergamo nicht aus und die Leichen mussten in umliegende Orte transportiert werden.”
Julie Metzdorf, BR, Der Militärkonvoi aus Bergamo: Wie eine Foto-Legende entsteht | BR24 - abgerufen am 29.05.25

(3) “Dreißig Armee-LKWs fahren in einer geordneten Reihe langsam den Weg vom Friedhof zur Autobahnausfahrt entlang. Sie sind mit 65 Särgen beladen, die Bergamo nicht mehr beerdigen, ja nicht einmal mehr einäschern kann.”
Marco Birolini, Avvenire, 19.03.2020.
Die Anzahl der LKW schankt je nach Quelle, meist ist jedoch von 11 LKW die Rede.

(4) An dieser Stelle sei auf die Twitter Files im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie verwiesen. sind eine Reihe interner Dokumente von Twitter, die ab Dezember 2022 unter der Leitung von Elon Musk von ausgewählten Journalisten wie David Zweig, Bari Weiss und Matt Taibbi veröffentlicht wurden.

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