Das Bild ist tot? Nein. Es ist nur endlich frei.

Einst war ein Porträt ein Machtstatement. Ein gemaltes Gesicht an der Wand bedeutete: Ich habe Geld, Zeit – und einen Maler, der mitunter monatelang nichts anderes tat, als mich festzuhalten. Ein einziges Bild konnte eine Erbschaft fressen, doch dafür die Zeit überdauern. Es war selten, teuer, exklusiv – und genau deshalb begehrenswert.

Mit dem Jahr 1839 hielt die Fotografie Einzug und begann das große Herunterhandeln. Zuerst blieb sie ein Luxusgut, dann wurde sie billiger, kleiner, schneller. Kodak drückte eine Kamera in jede Bürgerhand, Polaroid machte das Labor überflüssig. Mit jedem technischen Sprung rutschte das Bild eine Etage tiefer in der Gesellschaft – und verlor dabei an Aura und Preis. Doch gleichzeitig gewann es, leise und unaufhaltsam, an Macht: die Macht der Reichweite.

Anschließend folgte das Digitale. Es klopfte nicht an, es trat die Tür ein. Grenzkosten null, Speicher unendlich, Sofort-Feedback. Plötzlich konnte jeder tausend Bilder am Tag machen, ohne jemals sagen zu müssen: "Der Film ist voll." Die Profi-Fotografen sahen zu, wie ein Handwerk, für das sie jahrelang gelernt hatten, von einem Daumenwisch nicht unbedingt erledigt, aber doch grundlegend infrage gestellt wurde.

Facebook sammelte noch Einzelbilder. Instagram machte das Smartphone zur Hauptkamera des Planeten. TikTok stellte da ganz konsequent die nächste Frage: Warum überhaupt noch Stillstand? Ein Video besteht nur aus vielen Bildern pro Sekunde – also noch mehr, noch schneller, noch billiger. Die vermeintliche Authentizität des 15-Sekunden-Clips schlägt den aufwendig produzierten, im Komitee glattgeschliffenen Werbefilm, weil er näher wirkt – näher an der Wirklichkeit, näher am Gefühl.

Während der Ü-Wagen des Fernsehens noch einen Parkplatz sucht, ist das Ereignis auf X bereits dreimal als Meme durch das globale Dorf getrieben worden. Der Bürger mit dem Smartphone bringt Nachricht und Ereignis in Echtzeit-Einklang – ganz anders als früher, wo oft erst die zufällige Präsenz eines Kamerateams die Nachricht erzeugte.

Die nächste Eskalationsstufe: synthetische Bilder. DALL·E kam vor ChatGPT, und das ist kein Zufall. Das Bild war immer der Vorreiter. Was heute mit dem Visuellen passiert, frisst sich morgen durch Text, Musik, Film – vielleicht durch unser Realitätsempfinden selbst.

Das Bild, das einst ein Vermögen kostete, später ein paar Euro, dann einen Klick, dann gar nichts mehr, wird jetzt unendlich, individuell und sofort verfügbar. Kein Atelier, kein Model, kein Lichtsetup. Nur ich, mein Prompt und eine Maschine, die mir in Sekunden liefert, was früher nicht einmal gekrönte Häupter hätten bezahlen können.

Die große Entwertung des Bildes ist keine Tragödie. Sie ist die radikalste Demokratisierung, die die Kulturgeschichte je gesehen hat. Aus dem Statussymbol wurde ein Spielzeug, aus dem Spielzeug ein Werkzeug, aus dem Werkzeug ein Zauberstab.

Und hier beginnt der eigentliche Bruch, oder, wenn man so will, der Plot-Twist:

Ein Bild war nie nur Bild. Es war immer verdichtete menschliche Arbeit, Zeit, Aufmerksamkeit – eingefrorene Lebensspanne. Jedes Porträt, jede Fotografie, jedes Gemälde enthielt die unwiederbringliche Zeit eines anderen Menschen. Die Entwertung des Bildes ist deshalb die Entwertung dieser Zeit – und damit des Menschen als ökonomischer Faktor.

Was wir am Bild beobachten, ist die Generalprobe zur Entwertung all dessen, was einmal "Arbeit" hieß: das akribische Komponieren, das geduldige Entwickeln, das handwerkliche Können. Alles schrumpft zu einem Prompt von dreißig Token. Die Maschine erledigt in Sekunden, wofür früher Monate oder Jahre menschlicher Lebenszeit nötig waren.

Das ist weder gut noch böse. Es ist vor allem: neu. Zum ersten Mal kann eine Spezies ihre eigene Arbeitskraft systematisch gegen Null fahren, ohne Hunger oder Krieg als Motor. Wir erleben den Übergang von der Knappheit der Mittel zur Knappheit der Sinnfrage.

Wenn alles, was früher Arbeit, Können und Status war, plötzlich kostenlos und perfekt wird, bleibt nur eine Ressource übrig, die sich (noch) nicht synthetisieren lässt: die subjektive Erfahrung dessen, der schaut, fühlt, entscheidet. Der Mensch wird nicht überflüssig – er wird endlich knapp. Nicht mehr als Produzent, sondern als Bewusstsein.

Das Bild ist nicht gestorben. Es hat sich nur von der Arbeit befreit – und zeigt uns möglicherweise damit, wohin die Reise geht.


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Content Slop: Die industrielle Mast der Aufmerksamkeit

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Rewrite statt rewind: Vom Pantoffelkino zum Prompt